Opfer des AttentatsSie wollte Henriette Reker vor dem Attentäter retten

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Marliese Berthmann ist Hauptschullehrerin und hat viele Schlägereien geschlichtet.

Marliese Berthmann ist Hauptschullehrerin und hat viele Schlägereien geschlichtet.

Köln – Als sie die Schreie hinter sich hörte, muss bei Marliese Berthmann ein Instinkt eingesetzt haben. Der Instinkt einer Hauptschullehrerin, die 40 Jahre lang Schlägereien auf dem Schulhof geschlichtet hat. Die CDU-Politikerin drehte sich um, sah „Tumult, Tohuwabohu“. Das erste Detail, das ihre Augen fokussieren konnten: eine Frau, die am Boden lag. Henriette Reker. Ihre Oberbürgermeisterkandidatin. Dann sah sie den Mann, der neben der Verletzten stand. „Wie ein Gorilla, so“, sagt Berthmann, steht vom Wohnzimmertisch ihrer Wohnung in Junkersdorf auf. Sie kehrt die Ellbogen nach außen, macht die Arme rund. „Ich dachte zuerst, er hätte sie nur niedergeschlagen.“

"Ich dachte noch: Ist jot jejangen"

Die Lehrerin wusste aus Erfahrung: Bei Schlägereien hört heute kaum einer mehr auf, wenn das Opfer am Boden liegt. Man tritt weiter. Auch gegen den Kopf. Also tat Berthmann etwas, das sie schon unzählige Male getan hat. Sie ging dazwischen. „Spinnst du? Hast du sie nicht mehr alle?“ Irgendwie so etwas habe sie geschrien. Richtig laut. Was mutig war angesichts eines bis an die Zähne bewaffneten Täters. „Nur damit keiner denkt, ich wäre eine Heldin: Hätte ich ein Messer bei dem Mann vorher gesehen, würde ich bis heute noch weglaufen“, sagt sie.

Aber die 70-Jährige sah kein Messer. Das sah sie erst, als der Mann auf sie zukam und in seine linke Hosentasche griff. Ganz ruhig habe er sein Messer aufgeklappt. „Der hat das richtig zelebriert.“ Den Stich in ihre linke Lende spürte sie kaum. Beide Arme habe sie dem Täter entgegengereckt. „Ich weiß noch, wie ich dachte: Ist jot jejangen. Mehr habe ich nicht gedacht. Nur diesen Satz.“

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Eine vier Zentimeter lange Narbe

Wenn Marliese Berthmann lacht, lacht sie aus vollem Hals. Ein ansteckendes Lachen. Unglaublich, wie die 70-Jährige sechs Tage nach dem Mordversuch auf dem Wochenmarkt in Braunsfeld, der bundesweit Schlagzeilen machte, scherzen kann. Lachen, Scherze: Es sind die Waffen einer bedingungslosen Optimistin. Als sie Cappuccino mit Sahne bei ihrem Ehemann Günter, der in der Küche werkelt, bestellt, streichelt sie über ihr winziges Bäuchlein. „Man muss das hier doch pflegen“, sagt sie. „Hätte ich das Fett nicht gehabt, wäre der Stich tiefer gegangen, in den Darm.“ Dann lacht sie wieder, presst ihre Hand gegen die Lende. Wenn sie lacht, schmerzt die Wunde. „Auch, wenn ich huste oder mich bücke. Niesen ist eine Katastrophe.“ Vier Zentimeter lang ist die Narbe, schätzt die Mathematiklehrerin, demonstriert es mit zwei Fingern. Sie habe Glück gehabt ohne Ende, haben ihr die Ärzte gesagt.

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Gute Stimmung vor dem Attentat

Lachen und Scherze flogen auch am vergangenen Samstagmorgen durch die Luft. Am Wahlkampf-stand, wo sich Wahlkämpfer der CDU, Grünen und FDP versammelten, um ein letztes Mal für ihre gemeinsame Kandidatin Henriette Reker zu trommeln. So gut war die Laune beileibe nicht immer gewesen. Es gab auch schwere Zeiten in der achtwöchigen, heißen Wahlkampfphase. „Da haben uns Bürger beschimpft, wurden wir für die Flüchtlingspolitik verantwortlich gemacht. Aber in den letzten zwei Wochen hatte es sich beruhigt.

„Wir konnten wieder gute Gespräche führen.“ Berthmann verteilte Rosen. „Geht morgen wählen“, beschwor sie die Marktbesucher, die ihr entgegenkamen. Bloß keine Stichwahl, das sei ihr Ziel gewesen: „Eine Stichwahl würde uns hier umhauen“, habe sie denPassanten gesagt, noch Sekunden bevor Frank S. auf Henriette Reker einstach, später auf sie und drei weitere Menschen. „Da hat das Wort »Stich« noch eine andere Bedeutung gehabt.“

Anfänglich nicht von Reker überzeugt

Die CDU gehört zu Berthmann, solange sie denken kann. „Mein Vater und Opa waren Gründungsmitglieder der Partei im Westerwald.“ Selbst in die CDU trat die Lehrerin mit den Fächern katholische Theologie, Geschichte, Deutsch und Mathematik aber erst ein, als Bundeskanzler Helmut Kohl abtrat. In den letzten zwei Jahrzehnten hat es durchaus CDU-Kandidaten auf Landes- oder Bundesebene gegeben, für die Berthmann als Vorsitzende der CDU Braunsfeld/Müngersdorf einen „gedehnten Wahlkampf“ geführt hat, wie sie es nennt. Eine Pflichtübung. Auch von Henriette Reker war sie nicht von Anfang an überzeugt.

Dann lernten sich die beiden kennen, als eine Turnhalle ihrer Schule mit Flüchtlingen belegt wurde: Reker als Sozialdezernentin der Stadt kam vorbei. „Da hatte ich das Gefühl, die Frau ringt richtig darum, einen guten Job zu machen. Ich traue ihr auch zu, etwas durchzusetzen, was sie als gut empfindet.“ Im Krankenhaus besucht hat sie Reker nicht. „Ich fall doch nicht lästig“, sagt sie empört.

„Hauptschullehrerin aus Passion“

Gewalt ist nichts, womit man Marliese Berthmann überraschen kann. Mit Gewalt kennt sich die Lehrerin aus. Sie arbeitete erst lange an einer Hauptschule in Ehrenfeld, schwierige Schüler inklusive. Später, bis zu diesem Sommer, unterrichtete sie an der Martin-Luther-King-Schule in Weiden. „Ich bin Hauptschullehrerin aus Passion“, erklärt sie. Wer ihr zuhört, ahnt, dass sie eine brillante Lehrerin gewesen sein muss. Eine, deren Strenge schwankenden Schülern Halt gegeben hat. Eine, die mit Standpauken und Liebe in ihren Klassen verhindert hat, dass noch mehr Menschen wie Frank S. heranwachsen.

Gewalt sei Hilflosigkeit, sagt sie. „Die Kinder und Jugendlichen, die sich verbal nicht wehren können, die sich deshalb auch minderwertig fühlen: Die schlagen zu.“ Am Wichtigsten sei ihr darum gewesen, den Kindern zu vermitteln, dass jeder ein Talent hat, jeder zu etwas nütze ist. Sie hat ihnen Fabeln erzählt. Wie die von der Maus, die den hungrigen Löwen vor ihr beschwört, sie laufen zu lassen: Eines Tages werde sie ihn retten. Was natürlich erst einmal lächerlich klingt, weil die Maus winzig ist. Und die ihm tatsächlich einige Zeit später das Netz aufnagt, unter dem er gefangen liegt.

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Nicht der einzige Einsatz mit Zivilcourage

Nicht nur auf dem Schulhof, auch in der Bahn hat sie sich noch vor wenigen Monaten zwischen zwei Männer geworfen, die sich an die Gurgel wollten. „Ob ich das noch mal tun würde, weiß ich nicht“, sagt sie. Ob sie jetzt Angst hat? Nein, sagt Berthmann. „Aber als ich vor zwei Tagen den CDU-Infokasten am Braunsfelder Markt beschriftet habe, um mich im Namen der Parteien bei der Bevölkerung für die Solidarität zu bedanken, musste ich mich öfters umdrehen, ob da keiner ist.“

Im Wohnzimmer der Berthmanns hängt eine historische Wanduhr neben der anderen. Sechs von ihnen ticken unaufhörlich. Die Zeit, die bei diesem Ehepaar überpräsent scheint: Am Samstag, in den Minuten nach dem Anschlag, ging sie Marliese Berthmann komplett flöten. „Die Polizei war sofort da. Als seien die hinterm Busch gewesen“, erinnert sie sich. Ihr Mann widerspricht vom Sofa aus. „Das hat fünf Minuten gedauert“, sagt er. Berthmann erinnert sich eher an Bruchstücke, räumt sie ein. Sie weiß noch, dass sie versuchte, dem obdachlosen Zeitungsverkäufer aufzuhelfen, der umgerannt worden war. Sie sah, wie Reker mit Schirmen abgedeckt wurde. Erst später spürte sie die nasse Wärme an ihrem Bein. Sie zog sich die Hose runter, legte Taschentücher auf ihre stark blutende Wunde. Im Rettungswagen setzte der Schüttelfrost ein.

„Ich weiß ja, was in ihm vorgeht“

Seit Samstag wird Berthmann mit Blumen und Briefen überhäuft. „Sogar die Linken aus dem Bundestag haben geschrieben“, sagt sie und greift sich gespielt dramatisch an ihr Herz: „mein schwarzes CDU-Herz“. Die Blumen stehen oben im Zimmer ihrer Schwiegermutter. „Die hat Spaß an Blumen. Ich nicht so. Die verwelken und erinnern mich dann an Vergänglichkeit.“ Hass-Mails, Pamphlete von Rechten: bislang keine. Die Gleichgesinnten von Frank S. halten sich bei ihr zurück.

Wenn dem Täter irgendwann der Prozess gemacht wird, will Berthmann nur als Zeugin hingehen. „Ich muss nicht wissen, was den Täter getrieben hat. Ich weiß ja, was in dem vorgeht.“ Aber sagen würde sie ihm gerne etwas: „Dass Gewalt keine Lösung ist. Dass man versuchen muss, sich selber zu lieben.“ Und ja, eine Entschuldigung würde sie von ihm annehmen. „Soll ich denn sagen: Nieder mit ihm? Der ist doch schon gestraft genug mit seinen Ängsten.“

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Kölnerin aus Leidenschaft

Berthmann ist als 23-Jährige aus dem Westerwald nach Köln gezogen, um ihrem Mann nahe zu sein. Dass sie nicht aus Köln stammt, hört man bis heute an ihrem hart ausgesprochenen „r“. Sie, die ihre Wahlheimat aufrichtig liebt, wünscht sich, dass das Attentat die Stadt Köln verändern wird. „Ich hoffe schwer, dass einige Menschen ins Nachdenken kommen.“ Ob sie selbst sich verändert hat durch das Attentat? Noch ehe die 70-Jährige den Kopf schütteln kann, ruft ihr Ehemann wieder vom Sofa: „Nein“. Beide lachen.

Vielleicht ist es bei allem Unglück ein Glück, dass Frank S. eine wie Marliese Berthmann verletzt hat. Eine, die an ihren Gott glaubt und bei ihm Hilfe sucht. Eine, die keine 20 Tage in ihrem Arbeitsleben krank war und sich am Sonntag gegen den Protest der Ärzte selbst aus dem Krankenhaus entließ: „Ich musste doch wählen. Ich musste doch abends feiern nach dem langen Wahlkampf.“ Eine, die doch tatsächlich dachte, als sie angesichts des ganzen Bluts Übelkeit am Tatort überkam: „Jetzt machst du hier mal kein Drama.“

Man glaubt ihr, dass sie keine andere werden wird. Dabei ist die CDU-Politikerin im Wahlkampf öfters für eine andere gehalten worden. Zum Beispiel, als sich eine Gruppe von Künstlern mit ihr am Wahlkampfstand unterhielt. Am Ende sagte einer der Künstler zu Berthmann: „Frau Reker, wir werden Sie auf jeden Fall wählen.“ Kurz habe sie da gedacht: „Löse ich das jetzt auf?“ Sie entschied sich dagegen, sagte nur: „Ich danke Ihnen für Ihr Vertrauen.“

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