„Großes Livetesting unserer Waffen“Was der Westen von der Ukraine lernen kann

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Panzerhaubitze 2000 070822

Eine Panzerhaubitze 2000 

Berlin – Ukrainische Streitkräfte konnten in den vergangenen Monaten weite Teile des Landes gegen Russlands Angriffe verteidigen. Nur etwa 50 Kilometer sind die russischen Angreifer seit Anfang Mai vorgerückt – und das mit hohen Verlusten. Immer wieder kamen Militärexperten zuletzt ins Staunen über die Erfolge der ukrainischen Armee und sehen so einiges, was der Westen von der Ukraine lernen kann.

„Die Innovationsfähigkeit der Ukrainer, die Weiterentwicklung von Software und das perfekte Einsetzen von Waffen unter nicht perfekten Bedingungen können sich die Nato-Länder abschauen“, sagt Militärexperte Christian Mölling von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP).

„Wir leben seit 30 Jahren im Frieden und hatten bisher keine Vorstellung, dass man Panzer und andere Waffen auch ganz anders einsetzen kann, wenn man im Krieg darauf angewiesen ist“, so der DGAP-Forschungsdirektor im Gespräch mit dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND). „Aber wenn Menschen um ihre Existenz kämpfen, werden sie sehr erfinderisch.“

Anders als die Nato-Länder hat die Ukraine inzwischen eklatante Lücken bei ihren Waffensystemen. Es fehlen zum Beispiel Kampfhubschrauber, die aus der Luft die Verteidiger unterstützen. Doch die Ukrainer haben schnell gelernt, die wenigen Waffen so effizient wie nur möglich einzusetzen. Dabei hilft ihnen die enorme elektronische Aufklärung durch den Westen, so Experte Mölling. „Die Nato-Partner klären den russischen Gefechtsraum umfassend auf und geben die Informationen an die Ukraine weiter.“

Ukraine entwickelte Software für Panzerhaubitze 2000

In Nato-Kreisen hat besonders die von der Ukraine kurzfristig entwickelte Software für die Panzerhaubitze 2000 aus Deutschland für Aufsehen gesorgt. „Innerhalb einer halben Minute folgt das digitale Kommando, und Schüsse fallen“, so Nato-Diplomat David van Weel in einem Interview, während Deutschland mindestens 20 Minuten benötige. Militärexperte Mölling sieht darin einen Hinweis, dass die Ukraine „bei der Digitalisierung Deutschland meilenweit voraus ist“.

Alle seien überrascht gewesen. „Bei uns würde jemand womöglich sogar festgenommen werden, wenn er mit einer neu entwickelten Software für die Panzerhaubitze ankommt.“ Schließlich müsse sie zertifiziert und lange getestet werden – die ganze Bürokratie sei ein sehr langer Prozess.

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Ein weiteres Beispiel: Mit selbst entwickelten Apps und Geolocation ist die Ukraine in der Lage, ihre Gegner bis auf wenige Meter genau aufzuspüren. „Die Ukraine hat die Kriegsführung revolutioniert“, bewertet Mölling dies.

Verschleiß kann unter realen Bedingungen getestet werden

Doch noch aus einem weiteren Grund schauen viele westliche Militärs in die Ukraine. Nachdem der Westen zuletzt auch westliche Waffensysteme an die Ukraine geliefert hat, wie Himars-Mehrfachraketenwerfer und die Panzerhaubitze 2000, müssen sich diese Waffen nun im Dauereinsatz unter Realbedingungen bewähren. „Wir sehen jetzt ein großes Livetesting unserer Waffen in der Ukraine“, so Mölling. Bei der Panzerhaubitze 2000 wurden Verschleißerscheinungen auffällig, und dies sei auch absehbar gewesen. „Aber wie und wo die Panzerhaubitze bei einem längeren Einsatz verschleißt, sehen wir erst jetzt in der Ukraine.“

Oberst a. D. Wolfgang Richter von der Stiftung Wissenschaft und Politik betont, dass vor allem die Ukraine viel durch die Ausbildungshilfe der Nato-Staaten gelernt hat. Er hält es für fraglich, ob auch der Westen viel von der Ukraine lernen kann. „Wir haben bei der Bundeswehr vielfältige Aufklärungsmittel – da ist uns die Ukraine nicht voraus“, führt er als Beispiel an. Was der Bundeswehr aber gegenwärtig fehle, seien Kampfdrohnen. „Die Ukraine hat schon früh Zivilisten mit Drohnenerfahrung zur Territorialverteidigung eingezogen, die dann mit ihren eigenen Drohnen Aufklärung betrieben haben“, sagt Richter dem RND.

Damit hätten sie die ukrainische Armee gut unterstützt. Zudem habe die Ukraine die Aufklärung aus dem Westen und ihre eigene elektronische und Drohnenaufklärung gut auf das eigene Artilleriefeuer und die Einsätze von Kampfdrohnen abgestimmt.

Ukrainische Armee sammelte Geld über Crowdfunding

Später hatte die ukrainische Armee über eine Crowdfunding-Aktion im Internet Geld gesammelt, um türkische Drohnen zu kaufen. 20 Millionen Euro von Menschen aus der ganzen Welt kamen dabei zusammen. „Eine solche Aktion würde Deutschland niemals einfallen“, meint Militärexperte Mölling. „Die Ukraine hat es durch eine brillante Social-Media-Kampagne geschafft, auf der Ebene der emotionalen Zustimmung die Basis für Crowdfunding-Aktionen zu bereiten.“

Werden sich die deutschen Start-ups auch zusammentun und Apps programmieren, um die Russen anzugreifen? Wozu Deutschland im Kriegsfall bereit wäre, vermag der DGAP-Experte nicht einzuschätzen. Die eigene Zivilbevölkerung und die Soldaten konnte die ukrainische Regierung jedenfalls immer wieder motivieren. „Moral und Widerstandswille der Ukrainer sind sehr hoch“, bestätigt auch Oberst a. D. Richter.

Ob sich Deutschland davon etwas abschauen kann, ist unklar. Schließlich befindet sich die Nato nicht in einer Kriegssituation und muss eigene Länder verteidigen, macht Richter deutlich. „Die gesellschaftliche Debatte in Deutschland würde sich bei einem Angriff vermutlich schnell drehen“, glaubt er. Wie flexibel Deutschland sein kann, habe der Kriegsbeginn am 24. Februar gezeigt. „Da waren auf einmal Dinge möglich, die man vorher für unmöglich gehalten hätte.“

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