Drohende Hungersnot„Die Lage in der Ukraine ist hochdramatisch“

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Indien hat den Export von Weizen mit sofortiger Wirkung verboten – aus Angst vor Weizenknappheit im eigenen Lande.

Russlands Angriffskrieg führt nicht nur zu Hunger in der Ukraine, er könnte auch zu Hungersnöten in Entwicklungsländern führen, die stark von ukrainischen und russischen Lebensmittelimporten abhängig sind. Im Interview berichtet Mathias Mogge, Generalsekretär und Vorstandsvorsitzender der Welthungerhilfe, wie die Hilfsorganisation gegen Hunger in aller Welt kämpft, in der Ukraine unter gefährlichen Bedingungen Nothilfe leistet, wie im Krieg das humanitäre Völkerrecht mit Füßen getreten wird und was er jetzt von der Bundesregierung erwartet. Herr Mogge, wird der Krieg in der Ukraine zu Hungersnöten führen? Mathias Mogge: Bereits jetzt hungern Menschen in der Ukraine. Mit der Alliance2015, einem Netzwerk aus sieben europäischen, nichtkirchlichen Hilfsorganisationen, beschaffen wir deshalb Lebensmittel und verteilen sie in der Ukraine. Zudem sichern wir das Überleben der vom Krieg betroffenen Menschen durch Bargeldtransfers.

Wie bringen Sie die Lebensmittel in die umkämpften Gebiete?

Mit unseren Partnerorganisationen beladen wir in der Tschechischen Republik Sonderzüge mit Lebensmitteln, Hygieneartikeln und anderen Hilfsgütern. Die Züge fahren bis in den Osten der Ukraine. Von den Bahnhöfen werden die Hilfsgüter mit Lastwagen in Dörfer und Städte gefahren, in denen die Not am größten ist. Auch in Orte, die unter Beschuss liegen. Bereits sieben Züge haben die Menschen im Osten des Landes mit den dringend benötigten Hilfslieferungen erreicht.

Das klingt sehr gefährlich...

Ja, die Transporte sind hochsensible und sehr, sehr schwierige Operationen. Unsere Partnerorganisation People in Need kann sie nur durchführen, weil sie seit vielen Jahren in der Ukraine arbeitet und dort über beste Kontakte verfügt.

„Der Einsatz ist gefährlich!“

Wurden bei den Hilfstransporten Helfer verletzt oder getötet?

Unsere Partnerorganisationen haben bislang keine Opfer zu beklagen. Doch bei anderen Hilfsorganisationen wie der Caritas kamen bereits Mitarbeiter ums Leben, als sie versucht haben, Menschen in Not zu helfen. Seit Ausbruch des Krieges haben wir auch eigene Mitarbeiter unseres Emergency Response Teams in der Ukraine im Einsatz und sind dabei, weitere Experten zu rekrutieren. Wir tun alles, um die Kolleginnen und Kollegen bestmöglich zu schützen. Aber ich sage auch ganz klar: Der Einsatz ist gefährlich!

Bis zum Ausbruch des Krieges war die Welthungerhilfe nicht in der Ukraine aktiv. Wird die Ukraine jetzt zu einem neuen langjährigen Partnerland?

Die aktuelle Lage ist hochdramatisch. Sie lässt sich mit der Situation in Syrien vergleichen. Auch Syrien war vor Ausbruch des Krieges ein Land mit mittlerem Einkommen und gehörte deshalb aus guten Gründen nicht ins Portfolio der Welthungerhilfe. Aber heute zählt Syrien zu den Ländern, in denen wir auch in umkämpften Gebieten in großem Umfang helfen.

„Wir gehen dorthin, wo die Not am größten ist“

Ist die Ukraine das neue Syrien?

Wir gehen dorthin, wo die Not am größten ist. Die Ukraine konnte sich bis zum Ausbruch des Krieges sehr gut selbst ernähren. Sie war ja sogar ein wichtiger Exporteur von Grundnahrungsmitteln wie Getreide und Speiseöl. Aber der Krieg ändert jetzt alles. So lange es nötig sein wird, werden wir humanitäre Nothilfe leisten. Wenn der Krieg hoffentlich bald beendet sein wird, kann es gut sein, dass wir uns mit unseren Kompetenzen und langjährigen Erfahrungen in Post-Konflikt-Ländern beim Wiederaufbau beteiligen werden. Nichtsdestotrotz werden wir uns auch in Zukunft Ländern zuwenden, die aktuell weniger internationale Aufmerksamkeit und Unterstützung erhalten als die Ukraine, in denen der Bedarf jedoch trotzdem enorm ist. Man muss immer aufpassen, dass man ein Land nicht gegen ein anderes ausspielt. Aber wir müssen auch darauf achten, dass wir mit den uns zur Verfügung stehenden Ressourcen so umgehen, dass wir möglichst viele der bedürftigsten Menschen der Welt erreichen.

Humanitäre Hilfe soll unparteiisch und neutral sein. Ist das im völkerrechtswidrigen russischen Angriffskrieg überhaupt möglich?

Das internationale humanitäre Völkerrecht wird in der Ukraine und in vielen anderen Konflikten mit Füßen getreten. Afghanistan, Syrien, Südsudan, Jemen... Diese Liste ließe sich leicht fortsetzen. In der Ukraine werden Menschen ausgehungert und zivile Helfer daran gehindert, Bedürftige zu erreichen. Es werden Evakuierungskorridore beschossen. Wir wissen, dass in Kriegen alle Parteien Propaganda einsetzen. Auch wir laufen Gefahr, Teil und Opfer dieser Propaganda zu werden. Die Kriegsparteien könnten uns beispielsweise vorwerfen, dass wir nur einer Seite helfen. Aber als Humanitäre Organisation sind wir zur absoluten Neutralität verpflichtet. Uns geht es lediglich um die Bedürftigkeit der Menschen, nicht um Politik. Um überhaupt in umkämpften Gebieten arbeiten zu können und dabei unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bestmöglich zu schützen, ist es extrem wichtig, dass wir und unsere Partnerorganisationen die humanitären Werte hochhalten und verteidigen.

Durch den Krieg und die Sanktionen könnten auch Teile der russischen Bevölkerung verarmen. Muss die Welthungerhilfe bald auch in Russland Hilfe leisten?

Man sollte nie „nie“ sagen, aber im Moment kann ich es mir einfach nicht vorstellen. Natürlich gibt es auch schon heute in Russland große Armut. Aber auf der anderen Seite ist Russland ein riesiges Land mit riesigen Ressourcen. Allerdings sind sie sehr ungleich verteilt.

„Schon vor dem Krieg waren die Lebensmittelpreise auf einem Allzeithoch“

Der Krieg führt nicht nur in der Ukraine und in Russland zu Hunger und Armut. Beide Länder waren bislang wichtige Getreide- und Speiseöl-Exporteure. Wird der Krieg jetzt weltweit zu Hungersnöten führen?

Die Gefahr besteht. Länder wie Ägypten, Kenia, der Südsudan, der Libanon und viele andere Staaten waren bislang direkt oder indirekt stark von russischen und ukrainischen Exporten abhängig. Diese Länder erhalten jetzt nicht die bestellten Mengen oder müssen dafür sehr viel mehr bezahlen. Schon vor dem Krieg waren die Lebensmittelpreise unter anderem auf Grund von Klimawandel, Konflikten, der Corona-Pandemie und Spekulationen auf den Weltmärkten auf einem Allzeithoch. Die durch den Krieg gestiegenen Energiepreise werden jetzt dazu führen, dass unter anderem die Bewässerung in der Landwirtschaft noch teurer wird. Das wird zu einem weiteren Anstieg der Lebensmittelpreise führen.

Wer wird darunter besonders leiden?

Arme Menschen, die einen hohen Anteil ihres verfügbaren Einkommens für Lebensmittel ausgeben. Sie müssen häufig schon jetzt Mahlzeiten ausfallen lassen. Auch für Hilfsorganisationen wie die Welthungerhilfe sind die gestiegen Preise ein riesiges Problem. Für Verteilungen können wir nur noch geringere Mengen Lebensmittel kaufen. WFP, das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen, hat deshalb bereits Rationen streichen müssen. Als das WFP 2015 in den Flüchtlingslagern für syrische Flüchtlinge Rationen streichen musste, war dies einer der Auslöser für die großen Flüchtlingsbewegungen nach Europa. Das sollten wir nicht vergessen.

„Wie soll man Katastrophe steigern?“

Wie viele Menschen wird der Krieg in der Ukraine weltweit in den Hunger treiben?

Vor allem für Menschen, die schon vor dem Krieg unter Klimawandel, Konflikten und den Auswirkungen der Pandemie litten, kann die durch den Krieg ausgelöste Preissteigerung für Lebensmittel zur vierten Katastrophe werden. Eigentlich mag ich das Wort „Katastrophe“ nicht. Wie soll man Katastrophe steigern? Aber leider ist es so, dass man davon ausgehen muss, dass durch den Krieg noch mehr Menschen in eine katastrophale Situation geraten. Durch den Krieg in der Ukraine werden mehr Menschen in aller Welt hungern!

Wie viele?

Dazu gibt es unterschiedliche Prognosen. Die FAO, die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen, geht derzeit von acht bis 13 Millionen zusätzlichen Hungernden aus, das UN-Welternährungsprogramm prognostiziert, dass bis zu 47 Millionen weitere Menschen in Armut und Hunger abrutschen könnten.

In Anbetracht des Krieges in der Ukraine setzt jedoch nicht nur Deutschland derzeit eher auf Aufrüstung als auf einen Ausbau der Entwicklungszusammenarbeit.

Ja, und das bereitet mir große Sorge. Auch Länder wie China, Indien und die Türkei rüsten gerade massiv auf. Im Moment haben leider die Falken die Oberhand und nicht die Tauben. Ich würde es gerne umgekehrt sehen. Ich halte die Rückbesinnung auf das Nationale für eine extrem traurige Entwicklung, die sehr, sehr schädlich für die menschliche Entwicklung ist. Wir brauchen gerade jetzt genau das Gegenteil. Wir brauchen mehr internationale Kooperation, um Lösungen für die großen Menschheitsprobleme wie Klimawandel, Konflikte, Pandemie und Bekämpfung des Hungers zu finden.

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Was wünschen Sie sich in der aktuellen Situation von der Bundesregierung?

Mehr Geld, um unsere erfolgreichen Projekte in Anbetracht von immer mehr Menschen in Hunger und Not auch bei gestiegenen Lebensmittel- und Energiepreisen fortsetzen und ausbauen zu können.

Der aktuelle Haushaltsentwurf sieht jedoch massive Kürzungen bei der Entwicklungszusammenarbeit vor.

Noch ist es nur ein Entwurf. Wir hoffen, die Bundesregierung noch umstimmen zu können. Die vorgesehenen Kürzungen würden mitten ins Herz der zivilgesellschaftlichen Arbeit treffen und mich auch persönlich maßlos ärgern. Sie würden ein fatales Signal senden. Deutschland und die Industriestaaten sind mit ihren Emissionen für einen Großteil des Klimawandels verantwortlich, der im Globalen Süden bereits jetzt massiv zu Armut und Hunger führt. Daraus ergibt sich eine Verantwortung. Deutschland und die Industriestaaten müssen deshalb ausreichend Mittel bereitstellen, um Hunger und Armut zu bekämpfen.

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