Human Rights WatchDie Jagd nach der Wahrheit im Krieg

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Ein ukrainischer Soldat steht vor einem zerstörten Gebäude.

  • Sam Dubberley und sein Team von Human Rights Watch versorgen internationale Strafverfolger mit Beweisen.

Berlin – Die Wirte am Hackeschen Markt haben Tische, Stühle und Bänke in die Sonne gestellt. Es ist ein warmer Apriltag in der Hauptstadt. Hunderte Touristen essen und trinken aufgekratzt, was die Speisekarten hergeben. Die Leute lachen, es ist laut. Drei Stockwerke über ihnen, im ältesten Haus von Berlin-Mitte, sitzt ein Mann in seinem Büro und starrt dem Tod ins Gesicht.

Sam Dubberley leitet das Labor für digitale Ermittlungen der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW). Sein Team jagt Kriegsverbrecher. Oder wie Dubberley sagt: „Wir finden die Beweise.“

Ein hemmungsloses Wüten

In der Ukraine werden täglich mehr Opfer bekannt. In Butscha, in Bu sowa, in Irpin, Borodjanka oder in Mariupol. Von russischen Soldaten vergewaltigte Frauen, gefesselte, erschossene Männer, in Wohnhäusern zerfetzte Kinder, in Massengräbern Verscharrte.

Putins Armee wütet seit Wochen immer hemmungsloser. Die Vizepräsidentin der Ukraine, Olha Stefanischyna, berichtet von schlimmsten Kriegsverbrechen in ihrem Land. „Das ist so schockierend, das konnte ich mir davor alles nicht vorstellen. Es geht nicht nur darum zu verletzten, sondern zu erniedrigen, um den Widerstand zu brechen.“

Allein rund um Kiew hat die örtliche Polizei Ermittlungen wegen Kriegsverbrechen in knapp 1500 Fällen eingeleitet. Vor allem aus befreiten Gebieten gibt es Berichte von Gräueltaten. Moskau streitet alles ab und wirft der Regierung in Kiew vor, Falschinformationen zu verbreiten – ohne Beweise. Die Ukraine ihrerseits hat inzwischen eingeräumt, dass es von ihrer Seite in Einzelfällen Verstöße gegen das Völkerrecht gegeben haben könnte. Dies wird ebenfalls untersucht.

Sogar im Krieg gelten Gesetze

Fakt ist: Sogar im Krieg gelten Gesetze. Die Genfer Konventionen, denen auch Russland beigetreten ist, regeln etwa den Schutz von Personen, die nicht oder nicht mehr an den Kampfhandlungen teilnehmen – verwundete, kranke, gefangen genommene Soldaten, Zivilisten.

Schon jetzt gehen Experten von mehreren Tausend Kriegsverbrechen aus, die russische Soldaten, ihre Befehlshaber und deren Oberbefehlshaber, Präsident Wladimir Putin, in den vergangenen Wochen begangen haben. Dazu zählen auch der Beschuss offensichtlich ziviler Ziele wie das Theater in Mariupol, in dessen Kellern Familien Schutz vor Bomben gesucht hatten, oder der Angriff auf den Bahnhof von Kramatorsk, bei dem mehr als 50 Menschen starben, die mit dem Zug vor dem Krieg fliehen wollten.

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Inzwischen prüfen internationale Ermittler von Behörden und Nichtregierungsorganisationen wie HRW oder Amnesty International zahlreiche Fälle. Im Kiewer Vorort Butscha haben im Auftrag der ukrainischen Generalstaatsanwaltschaft französische Experten ihre Arbeit aufgenommen.

Die Bundesanwaltschaft hat bereits Anfang März ein sogenanntes Strukturermittlungsverfahren eingeleitet, so eine Sprecherin von Generalbundesanwalt Peter Frank: „Es bestehen konkrete Anhaltspunkte für möglicherweise bereits begangene Kriegsverbrechen, insbesondere von Kriegsverbrechen des Einsatzes verbotener Methoden der Kriegsführung gegen ukrainische Zivilisten und zivile Objekte.“ Mit Verweis auf laufende Ermittlungen wollen bislang weder die Justizbehörde noch das Bundeskriminalamt ins Detail gehen.

Ein Foto ist noch kein Beweis

Die internationalen Behörden stützten sich auch auf die Untersuchungen von Human Rights Watch, sagt Sam Dubberley in Berlin. Auf seinem Monitor ist das Foto eines mutmaßlich erschossenen jungen Mannes zu sehen, der mit dem Gesicht nach unten auf einer Straße inmitten von Trümmern liegt. Er scheint schon länger tot zu sein. Das Foto ist jedoch erst vor wenigen Stunden im Messengerdienst Telegram gepostet worden.

„Wo ist das Foto aufgenommen?“, fragt der gebürtige Brite in die Runde einer Videokonferenz. „Irpin“, antwortet ein Kollege. „Sicher?“, hakt Dubberley nach. Ein anderer Konferenzteilnehmer erklärt ihm, dass das Team mithilfe von Geodaten, sichtbaren Ortsmarken wie einem Schild an einer Häuserwand und der Prüfung weiterer Videos und Fotos aus anderen Perspektiven den genauen Fundort des Toten eindeutig bestimmen konnte.

An der zeitlichen Einordnung arbeite man noch, fügt jemand aus der Runde hinzu. Dafür nutzt das Team Satellitenbilder, die zum Beispiel von der US-Firma Maxar angeboten werden. Es ist wie das Zusammenfügen eines Puzzles. Nur, das hier ist kein Spiel. Dubberley entscheidet, HRW-Mitarbeiter nach Irpin zu schicken, um Zeugen zu finden. Der Auftrag: Die Dokumentation muss wasserdicht sein.

„Bilderflut in sozialen Nezwerken“

Sein Team umfasst sechs digitale Ermittler, die in Kalifornien, auf Hawaii, in Genf und in Berlin sitzen. Sie sind IT-Spezialisten, Datenforensiker, Journalisten. Vier weitere Leute sind zur Verifizierung und Zeugenbefragung direkt in der Ukra ine eingesetzt. Voraussetzungen für den Job? „Neugier, Genauigkeit, höchste Konzentrationsfähigkeit“, so beschreibt es Dubberley.

Alle Berichte und Dokumentationen, die sich mitunter auf winzige Details stützen, werden anschließend von Juristen geprüft. Erst wenn sie grünes Licht geben, veröffentlicht Human Rights Watch Fälle mutmaßlicher Kriegsverbrechen.

„Mit dem Krieg“, sagt der 45-Jährige, „hat eine Bilderflut in sozialen Netzwerken eingesetzt. Unsere Aufgabe ist es, Verstöße der Kriegsparteien gegen die Genfer Konventionen und Menschenrechte herauszufiltern und zu dokumentieren. Dafür sind diese Bilder und Videos unerlässlich.

“Entscheidende Plattformen sind da der in Deutschland umstrittene Messenger Telegram und das von einem chinesischen Unternehmen betriebene Videoportal Tiktok. Beide sind in der Ukraine und in Russland sehr populär. „Wir gleichen dieses Material mit Videos vom selben Sachverhalt auf weiteren Kanälen sowie Satellitenbildern ab. Gibt es nur ein Video, sind wir sehr skeptisch.“

Große Hürden in der Strafverfolgung

Die Fake-Vorwürfe von Kremlchef Putin lassen Dubberley und seine Leute kalt. „Wir halten unsere Standards ein: Gibt es zivile Tote, sind militärische Ziele in der Nähe, wann ist es passiert, wo ist es passiert, was sagen Augenzeugen?“

So sind auch Erschießungen russischer Kriegsgefangener durch ukrainisches Militär bekannt geworden. „Wir machen da keinen Unterschied“, so Dubberley. Wenn es keine Sicherheitsbedenken für Zeugen gibt, leitet Human Rights Watch seine Dokumentationen bei Bedarf an Strafverfolgungsbehörden wie den Internationalen Strafgerichtshof (ICC) weiter. Chefankläger Karim Khan hat dort bereits Ermittlungen „gegen unbekannt“ aufgenommen.

„Unbekannt“ – das ist die größte Hürde für eine Strafverfolgung. Anhand der Dokumentationen von Teams wie dem von Dubberley werden Ermittler zwar feststellen können, welche Einheiten zu welchem Zeitpunkt vor Ort waren. Aber die einzelnen Täter finden? Das wird schwierig.

„Viele Details gehen verloren“

„Die Aufklärung konkreter Verbrechen, wie sie jetzt wahrscheinlich in der Ukraine geschehen sind, wird dadurch erschwert, dass am Tatort selbst nicht so ermittelt werden kann wie in Friedenszeiten“, erklärt Professor Benjamin Ondruschka, Chef der Rechtsmedizin am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf. „Viele Details gehen durch die vergangene Zeit oder weitere kriegerische Handlungen verloren.“

Ondruschka weist auf einen weiteren Umstand hin: Berichte über den Einsatz mobiler Krematorien durch die russische Armee. „Die Beweissicherung ist damit vorbei.“

Jenseits der Frontlinien

In die umkämpften Gebiete selbst kommt neben dem Militär nur einer: das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (ICRC). Die neu trale Organisation ist das einzige Kontrollorgan, das die Einhaltung der Genfer Konventionen überwacht. Die ICRC-Mitarbeiter können Frontlinien überqueren und Zivilistinnen und Zivilisten in Gebieten helfen, in die sonst keine Hilfe gelangt.

Der Preis ist Verschwiegenheit, räumt Pressesprecher Christoph Hanger ein. „Wenn wir in Konfliktgebieten ein schlimmes Ausmaß an Zerstörung und unsägliches Leid sehen, dann stellen sich sehr ernste Fragen über die Art und Weise, wie Konflikte geführt werden.“

Die Praxis, nicht offenzulegen, was bei der Arbeit entdeckt wird, übt das ICRC seit Langem und in allen Konflikten weltweit. „Was wir herausfinden, teilen wir direkt mit den Konfliktparteien“, sagt Hanger. „Diese Gespräche sind vertraulich, was es uns erlaubt, direkt und offen zu sein. Die von uns gesammelten Informationen werden nicht an andere weitergegeben.“

„Was wäre denn, wenn wir nicht da wären?“

Auch wenn das ICRC nicht mit Strafverfolgungsbehörden zusammenarbeitet – die klare Definition von Kriegsverbrechen durch die Organisation ermöglicht es Ermittlern, Beweise zu sammeln und sie in standardisierten Dokumenten zu hinterlegen.

Die Menschenrechtler in Berlin haben den Fall des getöteten jungen Mannes aus Irpin innerhalb von 48 Stunden verifiziert. Marodierende russische Soldaten hatten an dieser Straße Ende März mehrere Zivilisten erschossen, wie aus Berichten von Zeugen hervorging. Wahrscheinlich war der noch Unbekannte zur falschen Zeit am falschen Ort.

Nun kann die Tätersuche beginnen. Sam Dubberley nimmt die Brille ab und reibt sich die Augen. „Es ist mühsam und die Bilder nagen an einem, aber ich liebe diese Arbeit“, bekennt er. „Jemand muss hinschauen und sagen: Das geht nicht! Was wäre denn, wenn wir nicht da wären?“

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