In dubio pro CoronaWie Entscheidungen von Richtern dem Virus helfen

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 In Kassel wollten so­ge­nannte Quer­den­ker eine Po­li­zei­kette durch­bre­chen.

  • Ausgangssperren werden gekippt, Kontaktbeschränkungen verworfen: Sind Deutschlands Verwaltungsrichter unter die „Querdenker“ gegangen? Nein.
  • Sie versuchen nur ihr Bestes und wenden geltendes Recht an. Dessen klassische Prinzipien aber bremsen, wie sich jetzt zeigt, neue Wege zur effektiven Pandemiebekämpfung.
  • Die Hintergründe.

Die Knappheit juristischer Formulierungen kann mitunter umschlagen in etwas Beleidigendes. So war es auch, als das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht sich zur Ausgangssperre in Hannover äußerte. Die Maßnahme, heißt es im unanfechtbaren Eilbeschluss des 13. Senats, sei „nicht erforderlich“.

Nicht erforderlich: Das sind Codewörter in der Welt der Verwaltungsjuristen. Tauchen sie in einer Gerichtsentscheidung auf, heißt das für die zurechtgewiesene Behörde nichts Gutes. Sie hat es dann in übler Weise vergeigt.

Für den Verwaltungschef der Region Hannover, Hauke Jagau (SPD), ist das alles doppelt bitter. Jetzt ist nicht nur sein Versuch gescheitert, mehr als eine Million Menschen nächtens zwischen 22 und 5 Uhr so weit wie möglich in ihre Wohnungen zu zwingen. Der Sozialdemokrat sieht nun zudem auch noch aus wie einer, der es übertrieben hat. Der mit Kanonen auf Spatzen schießen wollte. Genau das soll im Rechtsstaat nicht sein. Seit Inkrafttreten des Grundgesetzes gilt das Prinzip der Verhältnismäßigkeit.

Ohrfeige für einen Behördenchef, der es gut meinte

Wenn über Verhältnismäßigkeit diskutiert wird, schalten Nichtjuristen oft ab. Das ist ein Fehler. Denn das Thema ist zu einem zentralen Problem der Pandemiebekämpfung in Deutschland geworden. Es gehört auf neue Art diskutiert. Was ist verhältnismäßig? Was nicht? Jurastudenten lernen das Prüfungsschema schon in den ersten Vorlesungen im Verwaltungsrecht. Jede staatliche Einschränkung der Freiheit muss vier Bedingungen erfüllen. Sie muss erstens einem legitimen Zweck dienen. Sie muss zweitens geeignet und drittens erforderlich sein, um das Ziel zu erreichen. Viertens muss sie auch angemessen sein mit Blick auf die vielfach knifflige Abwägung von diversen Rechtsgütern.

Der vierte und letzte Teil ist meist der intellektuell anspruchsvollste. Hier holen Studenten bei Klausuren an den Universitäten ihre Punkte, hier investieren später auch Richter in ihren Urteilen die meiste Energie.

Wenn aber wie im Fall der Ausgangssperre in Hannover ein Oberverwaltungsgericht eine Maßnahme schon als „nicht erforderlich“ durchfallen lässt, also weiter vorn im Schema stecken bleibt, bedeutet dies mehr als nur einen nach unten gedrehten Daumen. Es ist eine Ohrfeige.

Dabei hatte Behördenchef Jagau es wirklich gut gemeint. Er wollte endlich runter von den schon seit Langem leicht überdurchschnittlichen Inzidenzen in seinem Verantwortungsbereich. Das OVG indessen meint, zu diesem Zweck hätte er erst mal mildere Mittel ausschöpfen müssen. Ergebnis: Die Ausgangssperre ist vom Tisch.

Die Verwaltung wird strenger, die Justiz aber auch Krachend kollidieren derzeit in Deutschland zwei Welten. Landauf, landab wird die Verwaltung strenger im Umgang mit der Pandemie. Zugleich aber wird die Justiz strenger im Umgang mit der Verwaltung.

Die Spannung steigt. Politische Kreise flüstern derzeit etwas von einem bevorstehenden neuartigen Lockdown, der „hart, aber kurz“ sein müsse. Die Kanzlerin persönlich mokiert sich schon, die Deutschen hätten ja, anders als Briten, Franzosen, Italiener, Spanier und Portugiesen, noch gar keine echten Ausgangssperren erlebt.

Doch wie soll so etwas im deutschen Rechtsstaat durchgesetzt werden nach dieser OVG-Entscheidung?

Ausdrücklich erwähnt der 13. Senat in Lüneburg den Paragrafen 28a des Infektionsschutzgesetzes. Dort wird, in 17 Einzelpunkten, eine ganze Klaviatur von möglichen Corona-Beschränkungen entfaltet. Erst wenn all diese Maßnahmen voraussichtlich nicht mehr griffen, meint das OVG, sei eine Ausgangsbeschränkung in Betracht zu ziehen, „als Ultima Ratio“.

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Quer­den­ker-Demo in Stutt­gart

Klassische juristische Muster passen nicht zur neuen Lage Dieses Denken entspricht klassischen, bewährten Mustern des deutschen Verwaltungsrechts unter der Geltung des Grundgesetzes: Die scharfe, die ganz ungewöhnliche Maßnahme darf nur als allerletztes Mittel erwogen werden. Genau darin aber liegt, wenn es um Pandemiebekämpfung geht, das Problem.

Wer als Richter immer erst die Eskalation abwarten will aus Gründen der Verhältnismäßigkeit, hilft bis dahin dem Virus – und macht die dann nötigen Eingriffe noch gravierender und langwieriger. Die intelligentere Lösung liegt in einem kollektiven Auskontern der Viruswelle.

Eindrucksvoll haben No-Covid-Strategen wie die Virologin Melanie Brinkmann immer wieder erläutert, dass das Geheimnis einer erfolgreichen Virusbekämpfung darin liegt, schon bei einer noch niedrigen Inzidenz harte Mittel anzuwenden. Australien, das einen solchen Weg ging, hat heute eine Inzidenz nahe null. Die Corona-Krise ist dort vorbei – obwohl auch die Impfquote in Australien (0,62 Prozent) nahe null liegt. In Australien verteidigten, ebenso wie übrigens in Neuseeland, immer wieder hohe und höchste Gerichte die „Early and hard“-Strategien bei regionalen Lockdowns. Mitunter wurden ganze Städte in Quarantäne geschickt, wenn eine einzige neue Infektionskette auftrat.

Hätten deutsche Verwaltungsgerichte das mitgemacht? Wohl kaum. Wenn etwas „early and hard“ ist, wird es in Deutschland als unverhältnismäßig einsortiert – und als rechtswidrig. Das Umdenken wird kommen, früher oder später

Welle von Klagen und Prozessen

Die dritte Welle der Infektionen in Deutschland brachte auch eine dritte Welle von Klagen und Prozessen. Auch milde Eingriffe wurden vor Gerichten oft erfolgreich angefochten. In Thüringen beharrte ein Kläger darauf, dass es sein gutes Recht sei, mit sieben Leuten zu feiern – das Amtsgericht Weimar gab ihm recht und nahm bei dieser Gelegenheit gleich die komplette Corona-Politik der Bundesregierung in einer wirren Polemik auseinander.

Sperrstunden zu Fall gebracht

In Nordrhein-Westfalen pochten Elektroläden mit Erfolg auf eine Gleichbehandlung mit Supermärkten. In Berlin brachten jubelnde Kneipenwirte vor dem Verwaltungsgericht Sperrstunden zu Fall. Und allerorten war der Prozessgewinner der gleiche: Sars-CoV-2.

Nur in Ausnahmefällen wie in Weimar sind es einzelne radikale Richter persönlich, denen man diesen Missstand vorhalten muss. Insgesamt geht es um etwas viel Größeres: eine in Jahrzehnten gewachsene Ordnung von Recht und Gesellschaft, die unendlich viel Gutes bewirkt hat – die aber, wie sich inzwischen zeigt, einer effizienten Pandemiebekämpfung tatsächlich im Wege steht.

Sauber lösen ließe sich das Problem durch eine Nachrüstung in Gestalt einiger kluger Gesetzes-, vielleicht sogar Verfassungsänderungen, die den Eigentümlichkeiten von Viruswellen mit ihren exponentiellen Anstiegen Rechnung tragen. Die moderne Gesellschaft muss lockerer werden im Knie und sich einem unbequemen Gedanken öffnen: Ein juristisch unverhältnismäßig erscheinendes Gegenmittel kann epidemiologisch gesehen genau das richtige sein.

Das Umdenken wird kommen. Wenn die letzten Intensivbetten vergeben sind an die derzeit immer jünger werdenden Patienten, wird ein Lockdown, auch tagsüber, in greifbare Nähe rücken. Dann nämlich greift endlich, schöne Grüße ans OVG in Lüneburg, die gute alte Ultima-Ratio-Logik. Bis dahin aber gilt business as usual: In dubio pro Corona.

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