Interview mit Ethikrats-Vorsitzender„Psychische Probleme brechen stärker durch“

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Alena Buyx

  • Wir sind alle erschöpft, doch die Pandemie lässt uns nicht los, sagt die Medizinethikerin Alena Buyx.
  • Lesen Sie hier das ganze Interview.

Frau Buyx, die Corona-Pandemie dauert jetzt ein gutes Jahr. Wie erschöpft sind Sie? Alena Buyx: Sehr. Die Pandemie zieht sich länger als wir alle gehofft haben. Und ich bin noch in einer privilegierten Situation, weil ich nicht existenziell bedroht bin und alle Erkrankungen in meiner Familie glimpflich verlaufen sind. Gemessen daran, kann ich ahnen, wie schlecht es anderen geht, die zum Bespiel alleinerziehend sind, Angst um ihre berufliche Existenz oder jemand verloren haben.

Wie nehmen Sie den Zustand der Gesellschaft wahr? Hat sich da etwas geändert im Verlauf des Jahres?

Es gab verschiedene Veränderungen zwischen dem ersten Lockdown im vergangenen Frühjahr und dem zweiten ab November. Die Bereitschaft zu solidarischem Verhalten ist gesunken, das zeigen verschiedene Studien. Nach anfangs sehr viel Solidarität hat sich inzwischen bis zu einem Drittel der Bevölkerung von dem Gedanken „Wir für uns alle“ verabschiedet. Ich erwarte übrigens, dass sich das nach der Pandemie wieder verbessern wird. Gleichzeitig sieht man im Moment auf der kommunikativen Ebene eine Zunahme von Gereiztheit. Und neue Begriffe wie „mütend“, die Kombination aus müde und wütend, spiegeln die zunehmende Unzufriedenheit mit der Corona-Politik der Regierung. Da ist seit dem Winter was gekippt, das sieht man ebenfalls in Befragungen. Und es gibt noch eine weitere Entwicklung: Der emotional-psychologische Effekt schlägt immer stärker durch.

Was meinen Sie damit?

Wir sind seit Beginn der Pandemie alle in einer absoluten Ausnahmesituation, einer langgezogenen tiefen Krise, die ganz viele Lebensbereiche durchdringt und für alle in verschiedener Hinsicht existenziell ist. Es gab da zunächst eine beeindruckend hohe Resilienz. Aber die emotionalen und psychischen Reserven erschöpfen sich. Psychische Problem, die jemand schon vor der Krise hatte, brechen stärker durch. Man sieht auch die Belastung bei den Kindern und Jugendlichen, die sich viele Monate nicht mehr in ihrem gewohnten sozialen Umfeld bewegen konnten. Das hinterlässt Spuren. Wir werden also viel Unterstützung in verschiedenen Bereichen brauchen und auch eine Art gesamtgesellschaftlichen Heilungsprozess. Wir haben als Gesellschaft eine ganze Weile in verschiedenen Überzeugungsgruppen mit teils sehr unterschiedlichen Risikowahrnehmungen gelebt, das zieht sich sogar durch Familien durch. Da müssen wir wieder rauskommen und uns wieder mehr zuhören, konstruktiver auseinandersetzen und Pluralität als etwas Wertschöpfendes in einer lebendigen Demokratie verstehen. Wichtig ist: diese Veränderungen sind nicht irreversibel. Die Lage ist sehr dynamisch.

Bedeuten die zunehmenden Schäden auch, dass man nicht weiter machen kann mit Beschränkungen?

Das Schreckliche an dieser Lage ist, dass sehr viele sehr belastet sind und wir leider dennoch mitten in der dritten Welle sind. In vielen Regionen sind die Intensivstationen am absoluten Limit. Deswegen müssen wir, bis hoffentlich bald die Impfungen die Situation verbessern, noch weiter die Zähne zusammenbeißen, so frustrierend das ist.

Sollten Geimpfte von Beschränkungen ausgenommen werden?

Es scheint als wären Geimpfte deutlich weniger infektiös. Aber wie hoch das Restrisiko ist, muss noch abschließend geklärt werden. Masken und andere Basismaßnahmen sind weiter allen zumutbar. Aber wir haben vom Deutschen Ethikrat auch gesagt: je sicherer man weiß, dass Geimpfte nicht mehr ansteckend sind, desto eher muss man die harten Freiheitsbeschränkungen für diese Gruppe zurücknehmen. Paradebeispiel ist da die Quarantäne. Ist das nicht ungerecht gegenüber den Nicht-Geimpften? Das ist genau das Problem. Es gilt zu vermeiden, dass die, die bei den Impfungen für die priorisierten Gruppen zurückgesteckt haben, doppelt benachteiligt werden. Ihnen muss man über Tests möglichst gleichen Zugang zu Erleichterungen ermöglichen. Aber weil es da um Lockerungen geht, sollte man sowas nicht mitten in der dritten Welle umsetzen, sondern erst wenn das wieder verantwortbar ist.

Es geht viel um Kontaktbeschränkungen in der Schule und im Privaten? Sehen Sie die Arbeitgeber mehr in der Pflicht?

Das sollte ausgewogen bleiben. Wenn man Schüler und Privatpersonen einspannt und einschränkt, sollte das auch für Büros und andere Arbeitsplätze gelten, wo irgend machbar. 

Kann man die Unzufriedenheit mit der Politik wieder auffangen, etwa durch das Infektionsschutzgesetz, das am Mittwoch verabschiedet wird?

Ich sehe nicht, wie in den nächsten ein zwei Wochen eine Corona-Politik auferstehen soll, die auf einmal 80 Prozent der Bevölkerung hinter sich versammelt. Die Erwartungen der Gesellschaft haben sich sehr auseinanderentwickelt. Die Maßnahmen im ersten Lockdown haben noch über 90 Prozent der Bevölkerung unterstützt. Jetzt wollen etwa 30 Prozent nur noch Lockerungen, über 40 Prozent einen knackigen Lockdown und der Rest ist irgendwo in der Mitte. Auch eine Bundes-Notbremse wird da nicht zu einer plötzlichen Vereinheitlichung der Erwartungen führen. Ich hoffe, dass sie zumindest die dritte Welle ein Stück weit bricht. Der Weg heraus ist jetzt aber noch klarer das Impfen. Das führt dann hoffentlich nachhaltig dazu, dass man verantwortlich öffnen kann – und das wollen letztlich alle Seiten.

Was ist mit den Tests?

Die bleiben eine zentrale Komponente. Auch, weil es Bereiche geben wird wie die Schulen, wo man mit dem Impfen vermutlich bis zum Sommer oder Herbst nicht weiterkommt, weil es noch keine Zulassung für Impfstoffe für Kinder und Jugendliche gibt.

Warum hat sich die Politik so schwer getan?

Erstmal war das natürlich eine sich ständig ändernde Lage. Also das das einfach war, das kann wohl niemand behaupten. Dann gab es seit Sommer eine intensive öffentliche Debatte mit sehr unterschiedlichen Positionen. Und das Perfide ist: Ein Weg, der versucht, möglichst viele Positionen einzufangen, was sonst eine durchaus sinnvolle politische Strategie ist, gerade wenn das Vorgehen umstritten ist, der funktioniert in so einer Krise nur begrenzt. Es sind auch Dinge verpasst worden – nur ein Beispiel: man hätte zum Beispiel Daten deutlich mutiger nutzen können.

Steht da nicht der Datenschutz entgegen?

Auch die geltenden Regelungen wie die Datenschutzgrundverordnung bieten Möglichkeiten, man muss sie nur beherzt nutzen. Das ist auch mit der Datensouveränität vereinbar. Dazu müsste man Datenschutz als Ermöglichung einer sicheren und verantwortlichen Datennutzung verstehen statt nur als Begrenzung bzw. als Verbotsgrund. Dann hätten wir ab Spätsommer besser gewusst, wo genau sich Infektionen abspielen und welche Maßnahmen wie wirken. Dieses Wissen fehlt teils bis heute, das beklagt auch die Wissenschaft. Und dann bleibt eben das Instrument des breiteren Lockdowns, mit einem Bündel von Maßnahmen, die streuen, die die Mobilität und Kontakte überall reduzieren. Nach der Krise muss man außerdem überlegen, wie man den Datenschutz an die aktuellen Gegebenheiten anpasst, so dass Big Data zum Wohle aller besser nutzbar sind. Es geht nicht um Abschaffung, sondern um eine Verbesserung des Datenschutzes.

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