Italienisches DramaIn Russland knallen jetzt die Champagner-Korken

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Mario Draghi ist der beste Premierminister, den das Land seit Langem hatte.

  • Italien hat den besten Premierminister gestürzt, den das Land seit Jahrzehnten hatte, Mario Draghi. Warum eigentlich?
  • Der Gewinner des seltsamen Spiels heißt Wladimir Putin. Seine politischen Freunde wollen Rom regieren – und die Nato spalten.
  • Hat der Kreml in Italien sogar den Fuß in der Tür?

Als am Mittwochabend klar wurde, dass nichts mehr zu retten ist, erspürte der italienische Sozialdemokrat Enrico Letta das Historische des Augenblicks: „Dies ist ein trauriger und dramatischer Tag für Italien.“ Soeben hatten wichtige bisherige Teile der Regierungskoalition beschlossen, nicht teilzunehmen an einem Vertrauensvotum, das sich Premierminister Mario Draghi von ihnen erhofft und erbeten hatte. Hat Draghi zu wenig Einfluss, um so etwas bewirken zu können? Die bittere Antwort lautet: Ja.

Es scherte die hinter den Kulissen agierenden Machthaber und Strippenzieher nicht, dass der Premier weltweit in politischen wie ökonomischen Kreisen einen Ruf hat wie Donnerhall. Es ist eher umgekehrt: Dass Draghi für Seriosität steht, für Verlässlichkeit, für Geradlinigkeit, machte ihn am Ende zum Außenseiter in der italienischen Politik. Eiskalt ließ man ihn fallen.

„Die Lumpen von Forza Italia, Lega und Fünf-Sterne haben in einer beispiellosen internationalen Krise den in der Welt am meisten respektierten Italiener nach Hause geschickt“, klagte am Donnerstag Carlo Calenda, ein Liberaler, der früher in Rom Minister war und jetzt im Europaparlament zur Fraktion Renew Europe gehört.

Lumpen? Tatsächlich hat das Hinterzimmermanöver von Rom etwas Düsteres und Niedriges. Beteiligt an der Entmachtung Draghis waren drei Kräfte:

-Forza Italia, die Partei des schmierigen Geschäftsmanns und langjährigen rechtspopulistischen Premiers Silvio Berlusconi.

– Lega, die Gruppierung des aufgeblasenen Nationalisten Matteo Salvini.

– Fünf Sterne, die einst als Anti-Establishment-Bewegung gestartete Partei des Juraprofessors Guiseppe Conte. Russland-Connection in Rom

Die drei Parteien sind sich spinnefeind. Aber sie sind vereint in einer verkniffenen Betrachtung von Politik. Ihnen allen sind kleine Geländegewinne bei möglichen Neuwahlen wichtiger als die große Frage, was einmal werden soll aus Italien – ganz zu schweigen von Europa und der freien Welt.

Es gibt eine weitere frappierende Gemeinsamkeit. Alle drei sind Teil einer seit vielen Jahren aktiven Russland-Connection in Rom.

Stets propagierten die drei Parteien einen milden Blick auf Moskau. Auch nach der völkerrechtswidrigen russischen Annexion der Krim im Jahr 2014 mahnte etwa Forza-Senior Berlusconi, man solle es nicht übertreiben mit der Kritik an Russland und an Putin. Ging es im EU-Kontext um Sanktionen, waren es andere, die drängelten – während die Italiener quengelten.

In den letzten Wochen äußerten jene, die jetzt gegen Draghi das Messer zückten, Vorbehalte gegenüber den Waffenlieferungen an die Ukraine. Alle drei predigen noch immer die alte Theorie, man müsse mit Russlands Staatschef Wladimir Putin nur vernünftig reden und auf ihn eingehen, dann drohe keine Gefahr mehr. Im Klartext freilich hieße dies: Europa muss sich im Zweifel immer fügen, egal was dem Kremlherrn als nächstes einfällt.

„In Russland werden jetzt Champagnerflaschen entkorkt und der Wodka geöffnet“, sagt Gennaro Migliore, ein Politiker der Mitte-Partei Viva Italia

Nie zuvor hatte eine Regierungskrise in Italien so große geopolitische Bedeutung. Früher als europäische Medien meldete die „Washington Post“ ihren Lesern das Scheitern Draghis. In europäischen Think Tanks wird unterdessen die Entmachtung des italienischen Premiers bereits verglichen mit dem Brexit-Referendum vom Juni 2016.

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Der italienische Präsident Sergio Mattarella nahm das Rücktrittsgesucht von Draghi an.

In früheren Zeiten scherte sich niemand um Regierungskrisen in Rom. Sie gehörten für viele zum Grundgeräusch. Es gab Witze wie diesen: Der US-Botschafter verlässt sein Büro und sagt der Sekretärin: „Ich gehe zum Lunch – falls der Premierminister anruft, bitte notieren Sie seinen Namen und seine Nummer, ich rufe zurück.“

Inzwischen aber leben wir in neuen, weniger lustigen Zeiten. Russland führt gerade in Europa den größten Landkrieg seit 1945. Draghis Drama ist vor dieser Kulisse nicht nur irgendeine weitere Regierungskrise in Italien, sie ist ein böses Zeichen für ganz Europa.

Die erste Besonderheit liegt schon in Draghi selbst. Welche Person in Italien sollte eigentlich besser für den Job qualifiziert sein als der frühere EZB-Präsident, der sich nicht nur in Europa, sondern rund um den Globus höchste Anerkennung erworben hat?

Bereicherung, Filz, Korruption: Zu vielem, was die italienische Politik oft überschattete, bot Draghi das Gegenbild. Er hätte es gar nicht nötig, den Posten des Premiers anzustreben. Dass er es trotzdem tat, war ein idealistischer Versuch, seinem Land etwas Gutes zu tun. Ihn jetzt zu verdrängen von der Führung des Landes ist eine jämmerliche Attacke auf den Besten, anti-elitär und kleinkariert zugleich.

So sahen es auch die 1000 italienischen Bürgermeister, die einen Appell zugunsten Draghis unterschrieben. Auch Wirtschaftsführer und Wissenschaftler taten sich zu Unterstützerkreisen zusammen. Ein Hirnforscher ermahnte die Koalitionäre in Rom, jetzt nur nicht zu schnell und zu reflexhaft zu entscheiden, das könne zu gravierenden Fehlern führen.

Zum Stück Geschichte gefroren

Es war alles zu spät und zu wenig. Am Donnerstag nahm Staatspräsident Sergio Mattarella Draghis Rücktrittsgesuch an. Die 17 Monate unter dem Ausnahme-Premier gefrieren jetzt zu einem Stück Geschichte – in dem sich allerdings viele neue Dinge finden lassen. Unter Draghis Ägide dreht sich binnen kurzer Zeit viel.

Das Land legte 2021, im ersten Jahr nach Corona, ein höheres Wachstum hin als andere EU-Staaten. Im Ausland begann ein neues Italien-Bild zu entstehen, quer zu den Klischees von Chaos und Niedergang.

Neu waren allerdings auch die klaren außenpolitischen Kanten, die Draghi zog. Alles zielte bei ihm auf einen besseren Zusammenhalt in der EU und in der Nato. Für die Italiener, von denen viele stets mit Sonderbeziehungen nach Moskau liebäugelten, bedeutete dies eine Umgewöhnung, einen Bruch mit unseligen Traditionen.

Blauäugige Blicke auf Moskau

Den einstigen Premier Berlusconi etwa sah man immer wieder nach Art Gerhard Schröders in seligen Umarmungen mit seinem „Freund“ Putin versinken. Zu Geburtstagen lud man sich gegenseitig ein, einmal schenkte Berlusconi dem Russen Seidenbettwäsche mit einem großen aufgedruckten Foto, das die beiden mächtigen Herren zeigte.

Lega-Chef Salvini lehnte bereits in den Jahren nach 2014 Sanktionen gegen Russland ab und protestierte sogar dagegen, in einem T-Shirt, das den kühn blickenden jungen Putin zeigt. Vor Kurzem hantierte er mit Plänen für eine Moskau-Reise, um durch einen eigenen Friedensplan mal eben den Krieg in der Ukraine zu Ende zu bringen.

Auch der frühere Regierungschef Guiseppe Conte war und ist mit Blick auf Moskau haarsträubend blauäugig. Zu Beginn der Corona-Krise 2020 gab Conte grünes Licht für die Landung zehn schwerer russischer Iljuschin-Transportflugzeuge, die angeblich medizinisches Hilfspersonal bringen sollten. Der Kreml nutzte dies für seine weltweite Propaganda. Aus den Maschinen stiegen, wie man inzwischen weiß, russische Soldaten und Spione in dreistelliger Zahl.

Der Amtsantritt Draghis im Februar 2021 markierte die Abkehr von skurrilen moskaufreundlichen Abirrungen dieser Art. Noch wichtiger ist für Land und Leute aber Draghis noch unvollendete Arbeit auf einem anderen Feld. Im Haushaltsjahr 2023 sollen die nationalen Steuereinnahmen und die noch nicht ausgezahlten Tranchen aus dem gigantischen Wiederaufbaufonds der EU zu einer Art Gesamtkunstwerk zusammenfließen. Wäre auch nur annähernd gelungen, was schon alles skizziert war – Energiewende, neue Bahnnetze, Forschungsförderung – hätten wohl noch ganze Generationen von Italienerinnen und Italienern ihre Straßen und Plätze nach Draghi benannt.

Hat Putin den Fuß in der Tür?

Moskau indessen konnte das Scheitern Draghis kaum erwarten. Hämisch hatten Kreml-Fans und Kreml-Trolls in den sozialen Netzwerken schon seit Tagen immer wieder auf die neue Krise in Rom hingewiesen: Nach Boris Johnson in Großbritannien war ein zweiter wichtiger Widersacher Putins ins Wanken geraten.

In scharfem Ton verlangten russische Diplomaten, Italien solle sich gegen Waffenlieferungen an die Ukraine sperren. Doch Draghi dachte gar nicht daran, sich zum Befehlsempfänger Moskaus degradieren zu lassen. Stattdessen fuhr er sogar selbst nach Kiew, an der Seite des deutschen Kanzlers und des französischen Präsidenten.

Hat der Kreml hinter Draghis Rücken mit Forza Italia, Lega und Fünf Sternen gesprochen? Die drei bisherigen Regierungsparteien wollen jetzt jedenfalls – ohne Draghi – einen anderen Kurs einschlagen. Conte trat in jüngster Zeit bereits offen als Kritiker der Waffenlieferungen hervor. Mit der bisherigen, weltweit bestaunten Einheit der Europäer wäre es bei einer italienischen Regierung ohne Draghi wohl vorbei: Moskau bekäme über Rom bei EU und Nato einen Fuß in die Tür.

Betrachtet man Entwicklungen in Italien durch die geopolitische Brille, erscheint die politische Beseitigung Draghis nicht mehr nur als bedauerliches Ergebnis einer leider landestypischen populistischen Aufwallung. Sie erscheint wie die Erledigung eines Auftrags.

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