Jahrestag der ExplosionDie große Leere und anhaltende Schuldsuche in Beirut

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Beirut Hafen

Trümmer auch 2021: Blick auf den Hafen Beiruts, in dem es zur Explosion kam.

Beirut – Marie-Rose Tobagi steht genau dort, wo sie vor fast einem Jahr knapp dem Tod entronnen war. Am späten Nachmittag des 4. August 2020 sah sie vom Balkon im dritten Stock ihrer Villa den Rauch, der über dem Hafen der libanesischen Hauptstadt Beirut aufstieg.

Als dann Minuten später eine verheerende Explosion ihre Wucht entfaltete, riss die gewaltige Druckwelle Marie-Rose zu Boden. Als sie wieder aufwachte und durch ein Loch im Dach den Himmel über sich wahrnahm, wusste sie: Es würde nichts mehr so sein, wie es einmal war.

Denkmal Gerechtigkeit Beirut

Ein Denkmal in der Nähe des Beiruter Hafens soll an Gerechtigkeit zur Katastrophe erinnern.

Die Wucht der Explosion zerstörte auch umliegende Wohnviertel. Videos zeigen, wie sich die Druckwelle in einem größer werdenden Radius von Straße zu Straße ausdehnte. Auch Libanesen, die den 15-jährigen Bürgerkrieg miterlebt hatten, sprachen vom schlimmsten Erlebnis ihres Lebens.

Mindestens 193 Tote, tausende Verletzte

Offiziell starben 193 Menschen, Opfervertreterinnen und -vertreter sprechen von 218 Toten. Als wäre die Explosion nicht traumatisch genug, folgte danach ein bis heute andauerndes Drama - der Wiederaufbau des Hafens hat noch immer nicht begonnen. Erst vor Kurzem fing eine französische Firma an, das Getreide zu entsorgen, das in Silos vor sich hin rottete. Nach Schätzungen der Nichtregierungsorganisation Beirut Heritage Initiative zerstörte die Explosion rund 800 historische Gebäude. Ein Drittel davon ist renoviert worden.

Explosion Info

In Marie-Roses Villa hat sich wenig getan. Decken und Wände konnten dank der Hilfe einer Nichtregierungsorganisation mit Stützen gesichert werden, Löcher in Wänden und Decken wurden mit Planen abgedeckt. Doch für einen Wiederaufbau fehlt der Ende 50-Jährigen das Geld. „In fast einem Jahr ist nichts geschehen", sagt sie.

Die meisten Opfer fühlen sich von der Regierung im Stich gelassen. Die Erfahrungen der vergangenen Monate seien „frustrierend", sagt Architekt Fadlallah Dagher von der Beirut Heritage Initiative. "Die Regierung hat sich in der gesamten Zeit überhaupt nicht gezeigt. Sie macht nichts."

Libanon leidet an Wirtschafts- und Finanzkrise

Die Explosion und ihre Folgen sind für viele ein Beispiel für die Verkommenheit ihrer korrupten politischen Elite. Seit bald zwei Jahren leidet der Libanon unter einer Wirtschafts- und Finanzkrise, die große Teile der Bevölkerung in die Armut getrieben hat, weil sie an ihre eingefrorenen Bankguthaben nicht mehr herankommen. Die libanesische Lira ist abgestürzt, die Inflation explodiert.

Weil Devisen fehlen, kann das Land wichtige Güter nicht ausreichend importieren. Kranken fehlen Arzneien. Wer tanken will, muss stundenlang Schlange stehen. Strom gibt es nur wenige Stunden am Tag. Und die führenden Politikschaffenden?

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Sie schaffen es nicht, eine neue Regierung zu bilden. Die soll das nur noch geschäftsführende Kabinett ersetzen, das nach der Explosion zurückgetreten war. Andere Länder wollen erst helfen, wenn die Regierung glaubwürdige Reformen beschließt.

Noch immer Suche nach Schuldigen

Die Krise habe Auswirkungen auf den Wiederaufbau, sagt Architekt Dagher. Wegen der blockierten Konten hätten Hauseigentümer kein Geld. Und noch immer ist unklar, wer verantwortlich für die Katastrophe ist. Die Ermittlungen haben bislang keinerlei Ergebnisse gebracht. Große Mengen der hochexplosiven Chemikalie Ammoniumnitrat sollen detoniert sein. Aber wieso lagerten sie über Jahre ungeschützt im Hafen?

Opferangehörige dringen auf Antworten. So wie William Noun, der 27-jährige Bruder des bei der Explosion getöteten Feuerwehrmannes Joe: "Wir werden nicht ruhen, bis alle, die für die Explosion verantwortlich sind, hinter Gittern sitzen."

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