Kommentar zu CoronaDas Schwarz-Weiß-Denken nimmt eine gefährliche Dimension an

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Impfung Spritze Symbol

Die Debatte um Corona und das Impfen hat die Gesellschaft entzweit.

Brüssel – Stress verändert die Menschen. Puls und Blutdruck steigen, wir atmen schneller, die Pupillen werden eng. Auch das Gehirn arbeitet anders. Es greift auf urzeitliche Betriebssysteme zurück. Die schnelle, einfache Lösung wird gesucht, alles Komplexe ist dann unwillkommen. Psychologen verknüpfen Stress seit Langem mit „Schwarz-Weiß-Denken“ und „Tunnelblick“. Mit anderen Worten: Auch das Denken wird eng. Für die Demokratie ist das nicht gut.

Die Debatte kippt längst ins Gefährliche

Unter Corona aber ist diese Engstellung zum neuen deutschen Massenphänomen geworden. Das aufrichtige Ringen um den besten Weg, Kernbestandteil des demokratischen Systems, geht vielen nur noch auf die Nerven. „Wenn ich diesen Lauterbach schon sehe“, stöhnen die einen. „Sterben mit Streeck“ wolle man nicht, eifern die anderen. Und beiden Seiten schwillt der Kamm. Wer da noch differenzieren oder gar integrieren will, hat es schwer. Die Lager streben heillos auseinander, vereint nur noch in ihrer Aufgeregtheit. Morddrohungen künden vom fortgeschrittenen Stadium eines Schwarz-Weiß-Denkens, in dem das zuvor nur Primitive schon übergeht ins Gefährliche.

In dieser Szenerie hat es jetzt keine Institution so schwer wie die Europäische Union. Warum, schäumen viele mit düsterem Blick, setzt Deutschland nicht knallhart auf eine nationale Impfstrategie wie Israel? Wären wir dann nicht viel weiter?

Die EU muss den Weg des Zusammenhalts weiter gehen

Theoretisch ja. Praktisch aber gibt es große Unterschiede zwischen einem strikt abgeriegelten Neun-Millionen-Staat im Nahen Osten und einem rundum offenen, mit neun Nachbarländern eng vernetzten 80-Millionen-Staat mitten in Europa. Auch wenn es eine Weile dauert und etwas komplizierter ist: Die Deutschen kommen nur raus aus dieser Krise, wenn die EU insgesamt herausfindet. Alles andere ist eine Illusion.

Die EU ist den Weg des Zusammenhalts gegangen, und das ist gut so. Ja, an der einen oder anderen Abzweigung hätte Brüssel mehr Tempo bewirken können. Entscheidend aber ist: Die EU hat in einer historisch beispiellosen Anstrengung ihren 440 Millionen Einwohnern 2,6 Milliarden Impfdosen gesichert. Deren Produktion ist jetzt der Flaschenhals. Hinzu kommen Probleme in den Einzelstaaten. In Deutschland wurden zwei Wochen nach der Lieferung von 1,45 Millionen Dosen Astrazeneca nur 270.986 Dosen verimpft. Der EU wird man diese Seltsamkeit schlecht anlasten können.

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Ausgerechnet das notorisch ungeliebte Brüssel schickt jetzt einen Sonnenstrahl der Hoffnung über den gequälten Kontinent – in Gestalt eines digitalen EU-Impfpasses. Der freilich nützt wenig, wenn es auch im Sommer noch an Impfstoff fehlt. Kommt aber bis dahin die erwartete Impfstoffschwemme und können die Europäer dann wieder reisen, werden viele durchatmen – und ihren eigenen Kontinent mit neuen Augen sehen. Wenn der Stress nachlässt, das zeigt die Erfahrung, endet auch der Tunnelblick.

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