Traurige Ratten, sehnsüchtige RöhrenaaleWas der Lockdown für Tiere bedeutet

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In Kansas City durften Pinguine durch das Nelson-Atkins-Museum watscheln – im stillen Zoo war ihnen langweilig. 

  • Das Fehlen von Menschen hat große Auswirkungen auf Tiere in der freien Natur oder in den Zoos – längst nicht alle sind positiv.

Zu den Menschen, die dem Lockdown etwas abgewinnen können, zählt ein Professor aus Konstanz. Als im März erstmals Schulen und Läden schlossen und der Flugverkehr weitgehend zum Erliegen kam, als die Welt also nach und nach immer ruhiger wurde, war er elektrisiert. Martin Wikelski, Leiter des Max-Planck-Instituts für Verhaltensbiologie in Konstanz, sah nicht Einschränkungen, sondern etwas anderes: eine Pause der Welt vom Menschen, „Anthropause“ im Wissenschaftler-Jargon.

Schon seit einigen Jahren hatte Wikelski Wanderungsbewegungen von Tieren mit Hilfe von Mini-Sendern verfolgt, die an Vogelfüßen oder Nashornohren angebracht werden und ihre Daten zu Satelliten funken. Nun, während vielerorts Stillstand herrschte, brach bei den Biologen Geschäftigkeit aus. Über 300 Wissenschaftler schlossen sich zusammen, um weltweit den Lockdown-Einfluss auf die Tierwelt zu untersuchen – also Tier-Bewegungsdaten in Zusammenhang zu bringen mit Verkehrsströmen und anderen Bewegungsdaten von Menschen, die von Telekommunikationskonzernen und Internetfirmen gesammelt werden. „Covid-19 Bio-Logging Initiative“ nannten sie das Projekt, Bio-Protokoll also.

Man könne bisher nur Hypothesen aufstellen, sagt Wikelski. Aber er ist sich ziemlich sicher: „Die Welt ist derzeit ein angenehmerer Ort für die Tiere.“

Und das hat auch mit Burgern und Sandwiches zu tun. Zumindest mit denen, die Besucher des Yellowstone National Park im US-Bundesstaat Wyoming sonst an den Picknickplätzen zurückgelassen haben – zur Freude der Raben. Weil der Park wegen Corona zeitweise schloss, hätten sich die Vögel umorientieren müssen. Sie suchten anderswo nach Essbarem und entdeckten dabei etwa die Überreste der Beutetiere von Wölfen. Die mahlzeitenden Raben hätten wiederum Greifvögel auf diese Futterquellen aufmerksam gemacht. Im kalifornischen Yosemite-Nationalpark trotteten Schwarzbären über Wiesen, auf denen sich sonst Ausflügler tummelten.

„Kulturelle Veränderung bei den Tieren“

„Es gibt die Möglichkeit für eine kulturelle Veränderung bei den Tieren“, sagt Wikelski begeistert. „Das ist unglaublich spannend.“ Er ist überzeugt: Einiges davon wird bleiben. Gnus in Afrika oder Rehe in Deutschland, die sich plötzlich über eine Straße trauten, weil dort nichts mehr fuhr, hätten sich neue Reviere erschließen können. „Durch Corona haben wir vielen Tieren die Möglichkeit gegeben, neue Habitate zu nutzen“, sagt Wikelski.

Andere sind da skeptischer. Lars Lachmann zum Beispiel, Vogelschutzexperte des Naturschutzbundes (Nabu), sagt: „Es gab nur marginale Veränderungen.“

Zu den Krisengewinnlern unter den Tieren zählt er die Kröten, die zur Laichzeit im Frühjahr entspannter und unfallfreier als sonst über Straßen ziehen konnten. Gürteltiere und Riesensalamander könnte das Corona-Virus vor dem Aussterben bewahren. China, wo beide Tierarten als Delikatessen zählen, hat den Verkauf von Wildtieren verboten – Gürteltiere gelten mit zu den möglichen Überträgern des Virus.

Aber haben nicht die Vögel im Frühling plötzlich lauter gesungen? Eine Sache der Wahrnehmung, sagt Lachmann. Weil im ersten Lockdown weniger Autos fuhren, hätten viele die Vögel einfach erstmals deutlicher gehört. Dass die extra aufgedreht haben - unwahrscheinlich: Wenn es leiser ist, reduzieren auch Vögel ihre Lautstärke. „In der Disko muss man auch gegen den Lärm anschreien, um sich zu unterhalten“, sagt Lachmann.

Eine Studie der University of Tennessee bestätigt das: Dachsammern, eine Sperlingsart, sangen im ruhig gewordenen Frühlings-Kalifornien leiser und tiefer als in Vorjahren. Nicht nur lauter, sondern auch schriller dringt man leichter durchs Verkehrsbrausen. Die neuen Töne hatten Folgen: Weibchen fanden die entsprechenden Männchen ziemlich attraktiv, stellten die Forscher fest. An manchen Orten allerdings wurde es nicht ruhiger, sondern turbulenter. Statt Thailand oder Italien wurde Deutschland erkundet. „Der Druck auf Wälder, Wiesen, Naherholungsgebiete und Naturschutzgebiete hat stark zugenommen“, heißt es beim Naturschutzbund (Nabu). Zu beobachten war das zum Beispiel auf der Ostseeinsel Fehmarn. „Am Strand sind sonst oft nur einzelne Spaziergänger, Steinsucher und Vogelkucker“, sagt Nikola Vagt, die Vize-Leiterin des Nabu-Wasservogelreservats Wallnau an der Westküste der Insel. „Dieses Jahr war es oft sehr voll.“

Der Sandregenpfeifer hatte da mitunter das Nachsehen, ein graubrauner Vogel mit weißem Bauch und schwarzem Halsband auf etwas längeren orangefarbenen Beinen. „Der setzt sich auf den Strand, vertraut auf seine Tarnung und legt seine Eier zwischen die Steine“, sagt Vagt. Die Tarnung ist so gut, dass Besucher solche Gelege schon mal zertreten oder ihre Decken darauf ausbreiten.

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Homeoffice hat Haustieren ungewohnt viel menschliche Nähe beschert. 

Bei Hamburg registrierten Nabu-Experten einen Seeadler, der wegen zu vieler Spaziergänger genervt seine Brut aufgab.

Manch ein Vogel könnte dabei auch das erlebt haben, was Experte Lachmann eine “ökologische Falle“ nennt. Strände, Seen oder Kiesinseln in Flüssen waren in Lockdown-Phasen zum Teil gesperrt – für Vögel eine verlockende Brutoption, die dann aber mit der Wiedereröffnung jäh zunichte gemacht wurde. „Ein volles Wochenende reicht, danach ist die Brut gescheitert“, sagt Lachmann.

Das kann auch in stadtnahen Ausflugsgebieten geschehen. Nabu-Wildtierexpertin Birte Brechlin hat während des ersten Lockdown beobachtet, wie mehr Menschen als sonst zum Spazieren in den Berliner Grunewald strömten. Weil sie sich wegen Corona nicht zu nahe kommen wollten, seien viele von den Wegen in den Wald ausgewichen. Auch hier brüten Vögel am Boden. Füchse, Dachse oder Kaninchen können aufgeschreckt werden. „Jede Flucht bedeutet Stress und Energieverbrauch“, sagt Brechlin.

Traurige Ratten

Es gibt aber auch Tiere, die die Menschen vermissen. Kopfläuse zum Beispiel haben wegen der Distanzregeln ein schweres Jahr hinter sich, wie eine Studie der AOK ergab. Im Pacific Science Center in der nordwestamerikanischen Stadt Seattle, sonst ein turbulenter Ort, den viele Schulklassen besuchen, registrierte die stellvertretende Ausstellungs-Leiterin Diana Johns nach der Schließung depressiv wirkende Ratten und unzufriedene Schlangen. Die Schlangen „haben nicht mehr so gut gegessen und sich nicht mehr so gut gehäutet“, sagte sie der örtlichen Zeitung “The Stranger“. Den traurigen Ratten haben die Mitarbeiter schließlich irgendwann abwechselnd Geschichten vorgelesen. Der Kansas City Zoo brachte im Mai die Pinguine Bubble, Maggie und Berkley ins örtliche Kunstmuseum. Die Tiere watschelten durch leere Räume, vorbei an Gemälden von Caravaggio und Monet, zeitweise wirkten sie interessiert. Eine PR-Aktion? Vielleicht auch das. Verhaltensbiologe Wikelski allerdings sagt: „Tiere langweilen sich schnell. Im Zoo aufgewachsene Tiere kennen Menschen und interagieren mit ihnen.“ Wenn diese Zerstreuung wegfalle, bleibe die große Leere.

Gesichter fehlen den Röhrenaalen

Oder die Nervosität wächst. So ging es offenbar den Röhrenaalen im Tokyoer Zoo. Die missmutig dreinblickenden schwarzgepunkteten Wesen leben dort in einem Aquarium, das Hinterteil fest verankert im sandigen Untergrund, wie Grashalme im Wasser schwankend. Als der Zoo im Frühjahr wegen der Pandemie schloss und die Besucher ausblieben, zogen sich die Tiere immer öfter in den Sand zurück, wenn mal ein Tierpfleger nach dem Rechten schaute. „Sie vergessen die Menschen“, stellte der Zoo fest, installierte Tablets um das Aquarium herum und bat via Twitter um Videoanrufe: „Könnten Sie den Aalen von zu Hause aus ihr Gesicht zeigen?“ Über zwei Millionen Menschen meldeten sich.

Manchen Tieren steht der Entzug erst noch bevor – in der Zeit nach der Pandemie. Zum Beispiel Hauskatzen, deren Besitzer jetzt im Homeoffice arbeiten. „Für Katzen ist die Präsenz oft eine große Qualitätsverbesserung“, sagt die Berliner Katzenpsychologin Kerstin Höfkes. „Es gibt jetzt viel mehr Zeit zum Kuscheln und Spielen.“ Höfkes empfiehlt, die Rückkehr ins Büro behutsam vorzubereiten, mit immer häufigeren Abwesenheitsphasen über mehrere Wochen, ein bisschen wie eine Kita-Eingewöhnung also. „Katzen sind stark ritualisierte Tiere“, sagt sie. „Wenn Rituale nicht erfüllt werden, können sie Auffälligkeiten entwickeln, wie Unsauberkeit oder Aggression.“

Überhaupt, das Homeoffice. Es könnte der Grund sein dafür, dass das Geschäft mit Hunden boomt. „Für einen Labrador Retriever gibt es derzeit über 120 Nachfragen für einen Wurf, sonst sind es 20 bis 30“, sagt Udo Kopernik, Sprecher des Verbands für das Deutsche Hundewesen (VDH), in dem sich Rassehunde-Züchter zusammengeschlossen haben. Das macht sich bei den Preisen bemerkbar: Die seien von durchschnittlich 1500 auf 2500 Euro gestiegen. Gute Bedingungen für Hundeschmuggel seien das, glaubt Kopernik.

Blühender Welpenhandel

Das hat man auch im Berliner Tierheim beobachtet, nach Eigenauskunft das größte seiner Art in Europa. Auf 16 Hektar sind hier am nördlichen Stadtrand der Hauptstadt Katzen und Hunde, Kaninchen, Geckos, Schlangen und Schafe untergebracht – und derzeit auch ein Schwein. “Der Welpenhandel blüht“, hat Tierheim-Sprecherin Beate Kaminski beobachtet. Zumeist aus Osteuropa kämen die Hunde via Kleinanzeigen ins Land, oft zu jung, fitgespritzt und ungeimpft. „Wir befürchten, dass die Welle zurückschlägt.“ Dann nämlich, wenn Neu-Hundebesitzer feststellen, dass Bürojob und Haustier doch nicht zu vereinbaren sind. Oder wenn aus einem süßen Welpen wegen zu früher Trennung von Mutter und Geschwistern ein bissiger oder kläffender Teenager geworden ist.

Der größte Einfluss des Lockdowns sei der auf den Menschen, findet Nabu-Experte Lachmann. „Bei viele hat sich die Perspektive geändert“, sagt er. Der Nabu verzeichnete zweitweise drei Mal so viele Anfragen wie sonst. Die Beteiligung an Vogelzählungen stieg.

Auch Biologe Wikelski aus Konstanz bilanziert, mit das Wichtigste sei, dass die Menschen etwas gelernt hätten: “Wir sehen, dass es kein Weltuntergang ist, wenn man mal eine Woche einen Strand sperrt, wenn die Schildkröten in dieser Woche ihre Eier legen oder Seevögel dort Rast machen.“ Die ersten Ergebnisse der Covid-19 Biologging-Initiative, so hofft WIkelski, könnten in drei Monaten vorliegen.

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