Drei europäische Staats- und Regierungschefs reisen mit dem Zug nach Kiew. Wenige Tage später verbreitet sich die Lüge, sie seien auf der Fahrt mit Kokain gefilmt worden.
In sozialen MedienWie sich die Lüge von Merz, Macron und einem angeblichen Beutel Kokain verbreitete

Bundeskanzler Friedrich Merz (r, CDU), Keir Starmer (l), Premierminister von Großbritannien, und Frankreichs Präsident Emmanuel Macron stehen im Salonwagen des Sonderzugs nach Kiew zusammen
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Die Wahrheit hat manchmal einen schweren Stand, weil sie nicht so schön aufregend ist. Die spannenderen Geschichten lassen sich mit Lügen erzählen.
Eine solche Geschichte, die seit dem vergangenen Wochenende von prorussischen Propagandisten, rechten Influencern und russischen Staatsmedien erzählt und von Hunderttausenden verbreitet wird, geht in etwa so: Als Friedrich Merz, Emmanuel Macron und Keir Starmer nach ihrem gemeinsamen Besuch in der Ukraine am Wochenende mit dem Zug aus Kiew zurückreisen, betreten Journalisten unerwartet ihr Abteil. Dabei filmen sie vermeintlich, wie der französische Präsident einen Beutel voll Kokain und der deutsche Bundeskanzler einen dazugehörigen „Schnupflöffel“ verschwinden lassen.
Die westlichen Ukraine-Unterstützer als Truppe korrupter Kokser – was für eine Geschichte! Für viele radikale Russlandfreunde passt diese Erzählung geradezu perfekt.
Die Wahrheit wäre keine Geschichte
Doch sie ist erfunden. Was in schlecht aufgelösten Videos mit etwas Fantasie wie Koks und Drogenbesteck aussehen mag, lässt sich auf höher aufgelösten Videoaufnahmen und Fotos leicht als das erkennen, was es tatsächlich ist: Macron nimmt kein Beutelchen Drogen, sondern ein zusammengeknülltes Papiertaschentuch vom Tisch. Und bei dem kleinen Utensil, das Merz in seiner Hand verschwinden lässt, dürfte es sich um einen Holzspieß handeln, der etwa für Fingerfood verwendet wird, oder einen Rührstab für Getränke. Die Aufnahmen sind außerdem schon auf der Hinfahrt der Politiker nach Kiew am Freitag entstanden und nicht erst auf der Rückreise am Sonntag.

Eine Nahaufnahme lässt erkennen, dass es sich bei dem vermutlichen Kokain-Päckchen um ein einfaches Taschentuch handelt.
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Eine wahre Geschichte könnte also so lauten: Europäische Staats- und Regierungschefs haben es nicht geschafft, ihren Tisch aufzuräumen, bevor Fotografen und Kameraleute in ihr Zugabteil gelassen wurden. Das ist jedoch weder spannend noch aufregend. Es ist eigentlich gar keine Geschichte.
Wie wurde die Lüge viral?
Spätestens seit Sonntagfrüh verbreiten sich Videoaufnahmen in schlechter Qualität zusammen mit den Kokain-Behauptungen auf der Plattform X (vormals Twitter). „Eine Kokainparty unter Freunden?“, fragt ein französischer Rechtsaußen-Account. Der Impfgegner und Trump-Unterstützer Simon Goddek (1 Million Follower auf X) schreibt: „Ein Beutel mit weißem Pulver liegt auf dem Tisch. Macron steckt es schnell ein, Merz versteckt den Löffel. […] Zelensky, ein bekannter Kokainliebhaber, hatte sie gerade erst empfangen. Verbinde die Punkte.“ Der Tweet wird mehr als elf Millionen Mal angezeigt und mehr als 31.000 Mal geteilt.
Auch Alex Jones (4,4 Millionen Follower), seines Zeichens so etwas wie der Übervater der rechtsextremen US-Verschwörungsszene, veröffentlicht sogar mehr als ein Dutzend Posts dazu auf X, die insgesamt mehr als 37 Millionen Mal angezeigt werden. Jones verbreitete in den vergangenen Jahren eine Vielzahl mehr oder weniger populärer Verschwörungserzählungen. Zu seinen harmloseren Behauptungen gehört jene, die US-Regierung habe Chemikalien in Gewässer geleitet, die „die verdammten Frösche schwul machen“. Weniger harmlos war hingegen die Behauptung, bei den 28 Todesopfern eines Amoklaufs an der Grundschule Sandy Hook im US-Bundesstaat Connecticut im Jahr 2012 habe es sich um bezahlte Schauspieler gehandelt und die Tat habe sich nie ereignet. Im Jahr 2022 wurde Jones deshalb zur Zahlung von fast einer Milliarde US-Dollar Schadensersatz an die Hinterbliebenen der Opfer verurteilt.
Russlands Außenministerium macht mit
Sogar die Sprecherin des russischen Außenministeriums, Maria Sacharowa, verbreitet die Kokain-Behauptung am Sonntag auf ihrem Telegram-Account. Der russischen Regierung kommt es mindestens gelegen, wenn es in den sozialen Medien um den vermeintlichen Drogenkonsum westlicher Politiker geht - und nicht um ihr gemeinsames Auftreten zur Unterstützung der Ukraine.
Auch russische Staatsmedien und mit ihnen zusammenarbeitende prorussische Propagandisten beteiligen sich: Der in der EU mit einem Sendeverbot belegte deutschsprachige Ableger des Kreml-Mediums „RT“ veröffentlicht auf seiner Website ein Video unter dem Titel „Herr Macron, was verstecken Sie da?“ RT spricht selbst nicht von Kokain, sondern insinuiert das bloß – wohl wissend, dass einige Zuschauer ihre „eigenen“, falschen Schlüsse daraus ziehen werden.
Der regelmäßig als „Geopolitik-Experte“ in russischen Staatsmedien interviewte US-Amerikaner Scott Ritter behauptet auf X, Merz, Macron und Starmer seien „in flagranti erwischt worden, wie sie Kokain schnupfen“ und die Medien verschwiegen das. Mit Straftaten kennt sich Ritter immerhin aus: Er wurde 2011 zu einer Haftstrafe wegen Sexualdelikten verurteilt. Ritter war Ermittlern ins Netz gegangen, die sich in einem Onlinechat als 15-jähriges Mädchen ausgegeben hatten.
Die üblichen Verdächtigen
Auch in Deutschland wird die falsche Behauptung der koksenden Staats- und Regierungschefs von Akteuren verbreitet, die man guten Gewissens als „die üblichen Verdächtigen“ bezeichnen kann: Darunter etwa die ehemalige Tagesschausprecherin Eva Hermann, die in den vergangenen Jahren zu einer wichtigen Influencerin der rechten und rechtsextremen Verschwörungsszene geworden ist. Außerdem Matthias Matussek, einst konservativer „Spiegel“-Journalist und Autor, seit einigen Jahren vor allem als Medienaktivist Rechtsaußen unterwegs.
Wie also umgehen, mit Behauptungen und Erzählungen, die so offenkundig falsch sind, aber doch von Hunderttausenden verbreitet und von Millionen gesehen werden? Der französische Élysée-Palast greift sie mit zwei Beiträgen auf französisch und englisch auf X auf. „Das ist ein Taschentuch. Um deine Nase zu putzen“ schreiben Macrons Leute über einen Fotoausschnitt, der ebenjenes Papiertaschentuch zeigt. „Das ist europäische Einheit. Um Frieden zu schaffen“, schreiben sie daneben auf ein Foto, das Macron, Starmer und Merz zeigt.
Die CDU legt mit einem ähnlichen Post auf Deutsch nach. Insbesondere französische Medien veröffentlichen zudem Faktenchecks, die nüchtern erklären, wieso die Kokain-Behauptungen aus der Luft gegriffen sind.
Doch es ist wie immer, wenn eine spektakulär-skandalöse Lügengeschichte viral wurde: Die Richtigstellung erhält nur ein viel kleineres Publikum. Weil sie nicht so aufregend ist. Und weil viele, die die Lüge glauben, sie auch weiterhin glauben wollen.