Soziologe Bude„Die nationale Strategie zur Beherrschung der Pandemie ist gescheitert“

Heinz Bude
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- Heinz Bude ist für Professor für Soziologie an der Universität Kassel.
- Mit Forschenden wie Melanie Brinkmann oder Michael Hallek plädiert Bude für die „No Covid“-Strategie.
Köln – Herr Professor Bude, Virologen warnen vor der „dritten Welle“ und zu weitreichenden Öffnungen. Fragen des gesellschaftlichen Lebens fallen in Ihren Beritt als Soziologe. Wozu raten Sie?
Ich muss zuerst konstatieren, dass die nationale Strategie zur Beherrschung der Pandemie gescheitert ist. Die Erklärung mit der regionalen Differenzierung verfängt nicht. Es gibt in der Tat große Unterschiede im Lande. Wir haben Landkreise, die das Infektionsgeschehen im Griff haben. In anderen schnellen die Zahlen plötzlich wieder enorm nach oben. Und wieder andernorts sind die Inzidenzwerte anhaltend hoch. Diese Verhältnisse sind aber nicht das Ergebnis einer differenzierenden Strategie, sondern einfach den jeweiligen Bedingungen von Bevölkerungsdichte, wirtschaftlicher Struktur oder Pendlerverkehr geschuldet.
Föderal heißt also nicht unbedingt wirkungsvoll?
Die verbreitete Klage lautet, die föderale Struktur mit ihren konkurrierenden Kompetenzen erlaube kein konzertiertes gemeinsames Vorgehen, und das verhindere einen Erfolg der Pandemiebekämpfung. Das ist eine Ausrede.
Aber die Abstimmung in der Bund-Länder-Runde funktioniert doch ebenso wenig, und im Streit über Impfdefizite und fehlende Schnelltests schieben sich Gesundheitsminister Jens Spahn und die Landesregierungen gegenseitig die Schuld zu.
Ich verstehe den Druck, der auf der Kanzlerin und den Ministerpräsidentinnen und -präsidenten lastet. Die Leute sind einfach nicht mehr bereit, die verhängten Einschränkungen hinzunehmen, auch weil der erkennbare Erfolg fehlt und sie sich zurecht fragen, wie lange dieser Eiertanz noch so weitergehen soll. Ich beklage nicht Koordinierungsdefizite und mangelnde Absprachen zwischen Bund und Ländern, mir geht es um ein komplett anderes Denken. Der Kampf gegen das Virus wird immer lokal, in überschaubaren Räumen gewonnen. Wir sollten von guten Beispielen im eigenen Land lernen. Warum klappt es in Tübingen oder Rostock? Weil dort proaktiv in Kindergärten, Schulen, Betrieben und auf dem Marktplatz getestet wird und das Gesundheitsamt Infektionsfälle schnell und genau verfolgt und die Betroffenen sofort informiert und zur Selbstisolation aufruft. Das ist alles kein Hexenwerk.
Eine No-Covid-Strategie, mit der Sie sympathisieren, steht massiv in der Kritik. Die Zielvorgaben – Inzidenzen unter zehn – seien abschreckend, das Operieren mit „roten Zonen“ und „grünen Zonen“ unrealistisch.
Da haben Sie vollkommen recht. Auch ich bin mir darüber im Klaren, dass es lebensfremd ist, das ganze Land trennscharf in grüne oder rote Zonen einteilen zu wollen. Natürlich kommt da sofort der Einwand, dass man das in einem Land wie Deutschland nicht hinbekommt: hohe Bevölkerungsdichte, internationale Drehscheiben wie der Flughafen in Frankfurt am Main, der Hafen in Hamburg oder die Wanderarbeitsstationen in Rheda-Wiedenbrück, massierten Milieus mit Menschen, die unterschiedliche Vorstellungen von Loyalität haben. Schon der Begriff der „Zonen“ hat ja etwas von angemaßtem Dirigismus oder bürokratischen Planspielen. Die Leute fragen dann schon, was diese No-Covid-Wissenschaftlerinnen und -Wissenschaftler im Sinn haben.
Zur Person
Heinz Bude, geb. 1954, ist für Professor für Soziologie an der Universität Kassel. Er studierte zunächst Katholische Theologie, später Soziologie, Philosophie und Psychologe in Tübingen und Berlin. Bekannt wurde er mit seinen Arbeiten über die 68er-Generation.
Von 1992 bis 2014 war er am Hamburger Institut für Sozialforschung tätig. 2016 wurde er mit dem Preis der Deutschen Gesellschaft für Soziologie geehrt.
Mit Forschenden verschiedener Fachdisziplinen wie der Virologin Melanie Brinkmann (Braunschweig) und dem Kölner Internisten Michael Hallek plädiert Bude für die „No Covid“-Strategie zur Bekämpfung der Corona-Pandemie. (jf)
Also, was haben Sie im Sinn?
Wir sind keine Besserwisser, sondern Andersdenker. Wir schauen uns an, was woanders klappt, überlegen uns, wie das hier funktionieren könnte, und schlagen unter Zugrundelegung der verfügbaren Evidenzen vor, wie wir auch hierzulande „No Covid“ Schritt für Schritt hinbekommen könnten.
Die Gesellschaft als ein soziales Labor?
Das experimentelle Denken und die demokratische Selbstregierung gehören doch zusammen. So kann man gemeinsam den besten Weg finden. Die Pandemie stellt nicht nur das Gesundheitswesen auf die Probe, sondern die Art und Weise, wie wir leben wollen.
Jeder möglichen Versuchsanordnung geht aber ein Grundsatzstreit voraus: Wie wollen oder wie können wir auf mittlere bis lange Frist mit dem Virus umgehen?
In der Tat sagt eine Fraktion, „Wir müssen auf lange Sicht mit dem Virus leben“. „No Covid“ hingegen sagt, „Wir können nur mit dem Virus leben, wenn wir nicht mit ihm leben wollen“. Einer Verhandlungs- steht gewissermaßen eine Nicht-Verhandlungsposition in Bezug auf das Virus gegenüber. „No Covid“ hat eine klare Vorstellung davon, wie das Virus gedeiht und schließt daraus, dass man ihm keinen Platz geben darf. Das ist der Sinn der Einrichtung von grünen und roten Zonen. In den roten Zonen wird das Virus verfolgt und vertrieben, in den grünen wird darauf geachtet, dass es keinen Fuß mehr fassen kann. Dafür braucht es eine lokale Testökologie, die den zeitlichen Abstand zwischen Infektion und Reaktion nicht nach Tagen, sondern nach Stunden bemisst. Ein „kritischer Inzidenzwert“ gibt dem Gesundheitsamt, aber auch der lokalen Öffentlichkeit über die Möglichkeit einer derart flexiblen Antwort Auskunft.
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Kommt Ihnen das nicht alles sehr stark virologisch getrieben vor?
Man muss natürlich wissen, wie das Virus auf den menschlichen Organismus wirkt und auf welchen Wegen und in welchen Mustern es sich unter den Menschen verbreitet. Die Virologie liegt auf der Schnittstelle von Biologie und Medizin, und die Epidemiologie ist Mathematik. Aber wie wir uns dazu verhalten wollen und können, kann man daraus nicht ableiten. Die Tatsache, dass wir tagtäglich über den Stand der Dinge in der „Tagesschau“ oder auf Onlineportalen informiert werden, zeigt, dass Corona eine gesellschaftliche Tatsache darstellt. Es geht immer auch um wirtschaftliche Tätigkeiten, um Mobilität, um die Abmilderung psychosozialer Belastungen und um Vorstellungen von Zukunft. Deshalb ist es „systemisches Denken“ gefordert. Sie können es aber auch einfacher formulieren und sagen: Wir müssen die verschiedenen Aspekte im Zusammenhang sehen. Es geht schließlich um die Wiederherstellung eines gemeinsamen Lebens.
Welche Zusammenhänge stellen Sie als Soziologe hier?
Wir befinden uns im Moment in der Falle der gruppenspezifischen Öffnungen. Die einen sehen, dass die anderen etwas dürfen, was ihnen noch verwehrt ist. Dadurch wird der Druck größer und alle wollen plötzlich, dass wir trotz deutlich steigender Ansteckungszahlen wieder zu einer Normalität wie früher zurückkehren. Wenn wir dann jedoch mitten in der dritten Welle mit südafrikanischen und brasilianischen Mutanten stecken, hat es niemand so gewollt, aber alle haben daran mitgewirkt.
Was kann man denn jetzt tun?
Warnen reicht nicht. Man muss Vorstellen haben, was man tun kann und was Erfolg verspricht. Genau. Was virologisch oder epidemiologisch gesehen richtig ist, müssen die Leute noch nicht für richtig halten. Die Soziologie befasst sich mit der Frage der Legitimität von Maßnahmen und der daraus sich ergebenden Deutungskämpfe um Gefolgschaft. Hier halte ich die Unterscheidung zwischen Kompromiss und Pakt für zentral. Wir bleiben in Deutschland unter unseren Möglichkeiten, weil wir immer noch denken, wir müssten Kompromisse finden. Mit dem Virus gibt es aber keine Kompromisse. Wir brauchen deshalb lokale Pakte zur Eindämmung von Covid-19. In solche Pakte sind die Betriebe einbezogen, die Schulen natürlich, die Gesundheitsämter, aber auch – was spontan verwundern mag – die Kirchen, Caritas und Diakonie. Und es braucht ein Quantum Charisma. In Rostock oder Tübingen sind das die jeweiligen Oberbürgermeister, die das Bewusstsein für eine gemeinschaftliche Kraftanstrengung erzeugen: „Wir wollen das jetzt packen.“
Packen kommt von Pakt.
Genau. Wir packen das (lacht). Das Problem bei solchen Initiativen sind immer die sogenannten Bystander – die Beobachter am Wegesrand, die Abwartenden, die Skeptiker. Diese Leute können Sie aber sofort gewinnen, wenn eine bestimmte Sache funktioniert. Sobald die Bystander merken, „oh, da geht ja was“, brechen die Barrieren bloßer Beobachtung sehr schnell. Natürlich bleiben immer ein paar Vernagelte übrig. Aber die werden in ihrem Nahbereich in eine - wenn Sie so wollen – Kulisse sozialer Kontrolle gezwungen, durch Angehörige, Nachbarn, Freunde, Kollegen.
Warum setzen Sie auf die Kirchen als Teil Ihrer Pakt-Idee?
Weil wir als Gesellschaft sehr existenzielle Fragen verhandeln. Zum Beispiel hat die Pandemie verdeckte Strukturen von Vereinsamung entstehen lassen. Wir haben das Problem älterer Singles, zumeist Frauen über 70. Da wäre eine intelligente, aufsuchende Sozialarbeit, gern auch mit spiritueller Grundierung oder Rahmung, extrem wichtig. Ich denke da nicht an „Essen auf Rädern“, so wertvoll natürlich auch dieses Angebot ist, sondern an regelmäßige Ansprache, Kommunikation, Anbindung der Menschen an ein soziales Netz. Nicht zuletzt würde das auch wieder Zustimmung zur Pandemie-Politik entstehen lassen.
Wieso?
Weil darin ein neues Gemeinschaftsgefühl sichtbar würde. Der Verlust gemeinsamen Lebens ist heute die größte und gravierendste Vermisstenanzeige unserer Gesellschaft – die Angst der Menschen, dass ihnen das Leben in Gemeinschaft abhandenkommt. Zugleich merken wir alle immer mehr, wie nötig wir das haben: Privates und Öffentliches in einer neuen Verbindung. Das wird die große Herausforderung für die post-pandemische Gesellschaft.