Der türkische Präsident Erdoğan geht als klarer Favorit in die Stichwahl am Sonntag. Mit einer Kampagne gegen Geflüchtete versucht Oppositionskandidat Kilicdaroglu, das Ruder in der letzten Minute noch herumzureißen. Einen Abgeordneten erinnert das an die „Türken Raus“-Forderungen aus seiner Kindheit in Köln.
Stichwahl in der TürkeiErdogan-Herausforderer Kilicdaroglus Kampagne gegen Geflüchtete spaltet die Opposition

Kemal Kilicdaroglu will um jeden Preis gegen Recep Tayyip Erdogan gewinnen und der Staatspräsident der Türkei werden. In seiner Kampagne fordert der sozialdemokratische Politiker seine Wähler dazu auf, sich zu entscheiden – und verspricht im Gegenzug, dass alle syrischen Geflüchteten das Land verlassen müssen.
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Ein Gewinner der Türkei-Wahl steht schon vor der entscheidenden Runde zwischen Präsident Recep Tayyip Erdoğan und seinem Herausforderer Kemal Kılıçdaroğlu fest: Die türkischen Nationalisten, die so stark wie nie in der jüngeren Geschichte der Republik sind.
Um ihre Stimmen buhlt vor der Stichwahl nun Kılıçdaroğlu, der in der ersten Wahlrunde entgegen den Umfragen klar hinter Erdoğan gelegen hat. Es ist eine Verzweiflungstat, weil der Oppositionskandidat mit den deutlich schlechteren Karten in die Schicksalswahl am Sonntag geht. Kılıçdaroğlu sieht seine womöglich letzte Chance darin, eine Kampagne gegen die Millionen Geflüchtete in der Türkei zu fahren.
Kılıçdaroğlu will „bis zum Ende kämpfen“
Kılıçdaroğlu hat im Wahlkampf eine Kehrtwende hingelegt. Vor der ersten Wahlrunde vor knapp zwei Wochen präsentierte sich der Chef der größten Oppositionspartei CHP in Videos volksnah am heimischen Küchentisch. Kurz nach dem Wahlschock vom 14. Mai zeigte sich der 74-Jährige dann ebenso staatsmännisch wie aggressiv in seinem Büro vor der türkischen Flagge. In einem kurzen Spot kündigt er an, er werde „bis zum Ende kämpfen“, und haut dann im Wortsinn auf den Tisch. Während er zuvor ein aus Händen geformtes Herz zu einem seiner Markenzeichen gemacht hat, setzt er nun auf aggressive Rhetorik gegen Geflüchtete.
Nach der ersten Wahlrunde hatte der dritte Bewerber im Rennen um das Präsidentenamt, der Ultranationalist Sinan Oğan, seine Unterstützung für Erdoğan erklärt. Der Vorsitzende der Siegespartei, der Rechtsaußen-Politiker Ümit Özdağ, hat sich wiederum hinter Kılıçdaroğlu gestellt – nicht ohne Gegenleistung. In einer gemeinsamen Erklärung haben Kılıçdaroğlu und Özdağ vereinbart, alle Geflüchteten in der Türkei innerhalb eines Jahres in ihre Heimatländer zurückzuschicken. Auf neuen Wahlplakaten verspricht Kılıçdaroğlu kurz vor der Stichwahl: „Die Syrer werden gehen“.
Noch ist offen, wie Geflüchtete innerhalb eines Jahres die Türkei verlassen sollen
Kein Land hat mehr Geflüchtete aufgenommen als die Türkei. Erdoğan hat zwar immer wieder damit gedroht, die Grenzen nach Europa zu öffnen. Wahrgemacht hat er diese Drohung aber nie. Stattdessen hat er im Rahmen des Flüchtlingspakts mit der EU maßgeblich dazu beigetragen, dass die Flüchtlingskrise 2015/2016 in Europa nicht noch weiter eskalierte. Nach UN-Angaben leben fast vier Millionen Geflüchtete in der Türkei, darunter 3,6 Millionen Syrer. Wie eine Rückführung in Länder wie Syrien oder Afghanistan innerhalb eines Jahres funktionieren soll, ist ebenso offen wie die Frage, wie das mit dem Völkerrecht vereinbar wäre.
Die Geflüchteten stehen vor der Stichwahl jedenfalls als Verlierer fest. Auch Erdoğan und seine islamisch-konservative AKP wollen Syrer zurückschicken, aber „freiwillig, sicher und mit Würde“, wie der Präsident betont. Kılıçdaroğlu hatte schon vor der ersten Wahlrunde einen härteren Kurs in der Flüchtlingsfrage versprochen, nun hat seine Rhetorik aber deutlich an Schärfe gewonnen.
Kölner Abgeordneter: „Kılıçdaroğlu hat die gefährliche Sprache der Ultranationalisten übernommen“
Die neue Kampagne spaltet die Opposition. Längst nicht jeder in dem Bündnis aus sechs Parteien, deren gemeinsamer Kandidat Kılıçdaroğlu ist, trägt sie mit. Der Parlamentsabgeordnete Mustafa Yeneroğlu von der Oppositionspartei Deva, die dem Bündnis angehört, fühlt sich an „Türken Raus“-Forderungen aus seiner Kindheit in Köln erinnert – und hält sich mit Kritik nicht zurück.
„Kılıçdaroğlu hat die gefährliche Sprache der Ultranationalisten übernommen“, sagt Yeneroğlu dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND). „Die CHP hat nach dem 14. Mai ihre Rhetorik verschärft und versucht, mit rechtspopulistischen Parolen Erdoğan Stimmen abzuringen. Ich bin nicht nur inhaltlich nicht damit einverstanden, sondern sehe auch, dass viele weitere Demokraten entsetzt sind.“
Der Parlamentarier zeichnet ein düsteres Bild von der Stimmung gegen Geflüchtete im Land. „Es gibt täglich Angriffe auf Geflüchtete oder ausländische Studenten. Leider ist das den meisten Menschen egal“, sagt er. „Die Massen stimmen menschenfeindlichen Parolen in den sozialen Netzwerken zu, nur noch wenige Menschen kämpfen dagegen an.“ Trotzdem will Yeneroğlu am Sonntag Kılıçdaroğlu wählen. „Das Land steht vor gewaltigen Herausforderungen“, sagt er. „Nur mit einem Wechsel gibt es eine Chance für eine bessere, vor allem für eine demokratische Zukunft.“
Erdoğan wird sehr wahrscheinlich gewinnen – das liegt nicht nur an der Opposition
Unwahrscheinlich ist, dass Kılıçdaroğlu einen Sieg Erdoğans noch abwenden kann. Das liegt längst nicht nur an Fehlern der Opposition, sondern vor allem an den ungleichen Ausgangsbedingungen: Erdoğan greift im Wahlkampf immer wieder auf staatliche Mittel zurück und verteilt großzügig Wahlgeschenke. Sein Umfeld kontrolliert zudem rund 90 Prozent der türkischen Medien, die die Opposition so gut wie gar nicht zu Wort kommen lassen und Regierungspropaganda verbreiten.
Erdoğan hat die Opposition in die Nähe von Terroristen gerückt, auch mithilfe eines manipulierten Videos. Ihm ist es außerdem gelungen, seine Anhänger davon zu überzeugen, dass die schwere Wirtschaftskrise nicht hausgemacht ist. Wahlen in der Türkei sind am Tag der Abstimmung zwar in der Regel weitgehend frei, wie Beobachter bescheinigen – fair sind sie aber keineswegs. (RND)