Tayfun Keltek im Interview„Es kursieren gefühlte Daten über Migranten und Corona“

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Ein Abstrich wird in einem Labor auf Corona untersucht.

  • Tayfun Keltek ist Vorsitzender des Landesintegrationsrats Nordrhein-Westfalen und des Integrationsrats der Stadt Köln.

Köln – Herr Keltek, der Präsident der Bundesarbeitsgemeinschaft der Immigrationsverbände, Ali Ertan Toprak, hat gesagt, Deutschland drohe eine Rassismusdebatte, wenn weiterhin tabuisiert werde, dass Migranten besonders häufig an Covid-19 erkranken. Wie sehen Sie das? Ich glaube, diese These selbst schürt eine Rassismusdebatte. Meines Wissens nach gibt es keine belastbaren Daten über Covid-Erkrankungen bei Menschen mit internationaler Geschichte. Allerdings kursieren „gefühlte“ Daten, dass bei dieser Gruppe eine sehr hohe Zahl von Erkrankungen vorkämen.

Ich halte es für hochproblematisch, den Corona-Diskurs zu ethnisieren. Das Virus ist das falsche Thema, um Differenzen zwischen Kulturen zu thematisieren. Vor allem stört mich allerdings, wenn nicht differenziert und der Gesamtzusammenhang gesehen wird: In Köln haben rund 40 Prozent der Menschen eine internationale Geschichte, in Kalk sind es fast 55 Prozent. Wenn dann zum Beispiel im Kalker Krankenhaus 60 Prozent der Covid-Patienten eine internationale Geschichte hätten, wäre das ganz normal.

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Tayfun Keltek, Vorsitzender des Integrationsrats

Toprak sagt, ihn ärgere die aus seiner Sicht übertriebene Sorge darüber, Virus-Raten von Migranten zu veröffentlichen – eher rassistisch sei es, wenn viele Menschen mit internationaler Geschichte am Virus sterben und niemand von den Ursachen spreche.

Natürlich müssen wir über soziale und ökonomische Benachteiligung sprechen, über strukturellen Rassismus, in dem Punkt gebe ich Herrn Toprak völlig recht. Und Armut ist eines der größten Risiken, um an Corona zu erkranken. Die Pandemie ist aber aus meiner Sicht nicht der richtige Ausgangspunkt für so eine Diskussion. Tatsache ist doch auch: Die Inzidenzzahlen sind in einigen Bundesländern, Städten und Landkreisen im Osten Deutschlands besonders hoch – in Regionen, in denen sehr wenige Menschen mit internationaler Geschichte leben. Wie erklären wir das?

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In sogenannten systemrelevanten Berufen arbeiten viele Menschen mit internationaler Geschichte – in der Pflege, an der Kasse in Supermärkten, bei Paketdiensten. Wäre die Pandemie nicht gerade geeignet, auf strukturelle Probleme, womöglich auch Benachteiligungen aufmerksam zu machen?

Natürlich müssen wir hier über strukturelle Probleme sprechen. Die Kassiererin und der Paketbote sind gefährdeter als der Informatiker und die Wissenschaftlerin. In den schlecht bezahlten Jobs arbeiten überproportional viele Menschen mit internationaler Geschichte. In der Kölner Stadtverwaltung haben nur rund 30 Prozent der Auszubildenden eine internationale Geschichte haben, dafür aber rund 60 Prozent der jungen Menschen in Köln insgesamt. Gucken Sie sich in Ihrem Unternehmen um: Wie viele Menschen mit internationaler Geschichte gibt es? Wie viele sind es im Kölner Stadtrat? Sie sind deutlich unterrepräsentiert. Sicherlich zeigt sich in der Krise besonders deutlich: Zwar steht im Gesetz, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist. Aber in vielen Bereichen ist es bei einem Lippenbekenntnis geblieben. Diese Menschen haben auch bei guter Qualifizierung immer noch keinen gleichberechtigten Zugang zum Arbeitsmarkt und müssen im Niedriglohnbereich arbeiten müssen. Darüber müssen wir reden. Aber nicht, indem wir auf Covid-Zahlen gucken.

Eine These, die gerade im Zusammenhang mit Menschen mit türkischer Geschichte immer wieder auftaucht, lautet: Viele informieren sich vor allem über türkische Medien. Und seien deswegen schlecht über die Gesellschaft in Deutschland informiert. Stimmen Sie zu?

Auch hier wird mir zu wenig differenziert: Auf die erste Generation der Einwanderer trifft das wahrscheinlich zu – was leider auch daran liegt, dass die öffentlich-rechtlichen Sender ihrem Auftrag, Nachrichten in anderen Sprachen zu veröffentlichen, nicht genug nachkommen. Für die folgenden Generationen glaube ich das nicht: Eine Studie kam schon vor knapp zehn Jahren zu dem Ergebnis, dass sich die zweite, dritte und vierte Generation von Einwanderern über deutsche und nicht-deutsche Medien informiert. Zudem wird in der Debatte über Corona unterstellt, türkische Medien seien unzuverlässig. Die mangelnde Pressefreiheit in der Türkei ist ein gewaltiges Problem. Verharmlost wird Corona dort aber ganz sicher nicht. Die Lockdowns sind viel härter als hier, die Warnungen in vielen Medien sehr eindringlich.

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Corona ist in der Hinsicht ein Gleichmacher, als wir alle gefährdet sind. Andererseits werden Probleme von Minderheiten eher weniger öffentlich verhandelt.

Mein Ansatz ist immer, Gemeinsamkeiten zu suchen und Menschen und Institutionen daran zu erinnern, wie sie sich mit ihren unterschiedlichen Herkünften und Fähigkeiten bereichern können. Ich denke, dass die deutsche Gesellschaft die vielen Potenziale von Menschen mit internationaler Geschichte noch immer viel zu wenig sieht und nutzt: Das betrifft Politiker, die nicht bedenken, dass ein großer Prozentsatz ihrer Wählerinnen und Wähler nicht aus Deutschland kommen, genauso wie Unternehmen oder Verwaltungen, die Vorbehalte haben auch die andere Sprache und die anderen Perspektiven der Menschen als Potenzial zu sehen und zu nutzen. In der Krise sind wir gleicher, aber auch ungleicher. Die Ungleichheit sollte aber nicht dafür missbraucht werden, auf die Corona-Zahlen zu gucken – und damit vor allem Vorurteile zu schüren.

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