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Ukraine-FluchtDavid lebt jetzt in Gladbach – und geht digital in Odessa zur Schule

Lesezeit 6 Minuten
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David besucht seit vergangenem September die Schule - in Odessa. Jetzt wird er in Refrath digital unterrichtet.

Bergisch Gladbach/Odessa – Die Goldmedaille musste mit. Einige Fotos. Und das Spielzeugauto natürlich, das der Vater ihm geschenkt hat. Fahrrad, Roller und Inlineskates hätte David auch gern noch mitgenommen. Er ist ein sportlicher Junge, gewinnt Turnwettbewerbe und bewegt sich auch sonst gern und viel. Aber das Auto war zu klein. Es war ja ohnehin eng auf der langen Fahrt bis Köln, zusammen mit der Mutter, der Tante und den zwei kleinen Cousinen. Also mussten die Sportgeräte des Sechsjährigen in Odessa bleiben. Zurückgeblieben sind auch sein Vater, der Onkel und die Großeltern.

David ist im vergangenen September in die Schule gekommen. 29 Mitschülerinnen und Mitschüler hat er in Odessa, seine Lehrerin, Oksana Wadimowa, ist eine Dame gesetzteren Alters. „Eine sehr gute Lehrerein“, betont Anna, Davids Mutter. Viele Eltern hatten gewollt, dass ihre Kinder von ihr unterrichtet werden, deshalb sei die Klasse so groß. Doch jetzt sind nur noch wenige Schüler in Odessa, der kosmopolitischen Millionen-Metropole am Schwarzen Meer, nach Kiew und Charkiw die drittgrößte Stadt der Ukraine. Fünf oder sechs seien es vielleicht noch, schätzt Anna.

Alle anderen sind wie David mit ihren Müttern vor dem Krieg in der Ukraine geflohen, haben das Nötigste und Wichtigste eingepackt und hoffen nun in Polen, Rumänen, Österreich oder eben Deutschland, dass der russische Angriff enden möge. Oksana Wadimowa ist geblieben. Und seit dem 14. März unterrichtet sie wieder. Digital.

Wisch nach links: die Mitschüler werden sichtbar

An diesem Morgen sitzt David in einer Wohnung in Bergisch Gladbach-Refrath an einem Schreibtisch und folgt auf dem Handybildschirm den Ausführungen seiner Lehrerin. Mathematik steht an. Neben sich hat der Sechsjährige ein Aufgabenheft liegen. Wenn er auf dem Bildschirm nach links wischt, sieht er die Gesichter seiner ukrainischen Freunde. Vom Krieg in alle Welt zerstreut.

Von acht Uhr morgens bis mittags geht der Online-Unterricht. Zwischen 23 und 25 Kinder seien immer dabei, lässt Wadimowa auf Nachfrage über Anna ausrichten. „Trotz der aktuellen Situation in der Ukraine müssen die Kinder etwas lernen“, sagt sie: „Es hilft ihnen, ihr Köpfe freizubekommen von negativen Gedanken und sich wieder ein bisschen so zu fühlen wie vor dem Krieg.“ Der Online-Unterricht sei nicht ganz einfach, aber sie versuche, sich das nicht anmerken zu lassen, erzählt die Lehrerin.

David habe auf jeden Fall Spaß daran, berichtet Anna: „Es fällt ihm leicht, er kennt das ja schon vom Corona-Lockdown.“ Da wurden die ukrainischen Kinder wie die deutschen im Schnellverfahren ans digitale Lernen herangeführt. Welche Bedeutung das noch einmal für sie haben würde, ahnte damals niemand.

Anna und ihre Schwester Helen servieren Tee und Kekse. Die Möbel in ihrer Wohnung sind aus einer anderen Zeit. Ein älterer Herr ist hier kürzlich ausgezogen, und nun haben die Vermieter beschlossen, die Wohnung zunächst den ukrainischen Frauen und ihren Kindern zur Verfügung zu stellen. Neue feste Mieter können sie immer noch suchen, wenn der Krieg vorbei ist.

Vom Klavierlehrer bis zur Wohnung

Claudia Feldmann hat vermittelt. Über den Klavierlehrer der Kinder ihrer besten Freundin hat die Refratherin von den Ukrainerinnen gehört, über eine der vielen Nachbarschafts-Hilfs-Chatgruppe von der Wohnung. Auf solch verschlungenen Wegen läuft aktuell viel unbürokratische Hilfe für geflüchtete Ukrainer. Jetzt unterstützt Claudia Feldmann die jungen Frauen bei den nötigen Behördengängen.

Am 24. Februar, als Russland die Ukraine attackierte, klingelte bei Anna und ihrem Mann um fünf Uhr morgens das Telefon. Eine Freundin rief an, sie wohnt etwas außerhalb von Odessa, nah an einer Militärbasis. Und dort waren erste Bomben eingeschlagen. Der Krieg hatte begonnen. Die Familie verbrachte dann viele Nächte im Keller. Anna zeigt auf ihrem Handy Bilder von einem Matratzenlager in einem dunklen Raum, der wie ein Verlies aussieht. Odessa selbst blieb bislang von Angriffen verschont, aber in den umliegenden Militärbasen kracht es immer wieder. Sirenen heulen. „Die Kinder haben viel geschrien, das war großer Stress für sie“, sagt Helen.

Der Vater fuhr mit bis zur moldawischen Grenze

Die Frauen hofften, dass der Krieg schnell wieder vorbei sein würde. Deshalb blieben sie zunächst. Für die Kinder in der Ukraine lief nach zwei Wochen ein Online-Unterrichtsprogramm der Regierung an. Weitere zwei Wochen später übernahm Oksana Wadimowa den digitalen Unterricht von Davids Klasse. In diesen Tagen reifte aber auch die Entscheidung seiner Eltern, dass Mutter und Sohn das Land gemeinsam mit ihrer Schwester und seinen Cousinen Arina, fünf Jahre, und Anait, ein Jahr, verlassen würden. Es wurde ihnen auch in Odessa zu gefährlich. Die Väter fuhren mit bis zur moldawischen Grenze. Beim Gedanken an den Abschied steigen Anna und Helen die Tränen in die Augen.

Einer der Männer ist Vorarbeiter auf dem Bau, der andere LKW-Fahrer. Arbeit gibt es für sie aktuell nicht. Und die staatliche Unterstützung ist überschaubar: Sie bekämen 6500 ukrainische Hrywnja pro Monat, erzählt Helen, umgerechnet knapp 200 Euro. Anna verkauft selbst designten Schmuck, auch das ist kein Geschäft für Kriegszeiten. Helen ist mit den Kindern zu Hause, Anait wird noch gestillt. Ab der moldawischen Grenze sind die Frauen ohne ihre Männer weitergefahren. Über Rumänien und Ungarn nach Deutschland. Sieben Tage waren sie unterwegs. Eine alte Schulfreundin lebt schon seit Jahren in Köln, sie ist der Grund, warum sich die Schwestern aus Odessa bis hierher durchgeschlagen haben.

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Davids Unterricht bei Oksana Wadimowa findet auf Ukrainisch statt. Zwei Stunden in der Woche hat er Englisch-Unterricht. Eine Stunde ist für Russisch reserviert. Als Anna und Helen zur Schule gingen, war das noch anders, da gab es nur zwei Stunden Ukrainisch pro Woche. Nach der Orangenen Revolution 2014 änderte sich das, die Ukraine stärkte die eigene Identität und wandte sich Europa zu. Aber das russische Erbe, zumal in Odessa, das 1794 auf Anweisung der russischen Zarin Katharina der Großen gegründet wurde, blieb allgegenwärtig.

David benutzt ganz selbstverständlich beide Sprachen, er spricht Russisch mit den Eltern und Ukrainisch in der Schule. Helen sagt: „Unsere Amtssprache in der Ukraine ist heute Ukrainisch, aber ansonsten kann jeder die Sprache sprechen, die er möchte. Wir sind ein freies, weltoffenes Land.“

„David versteht, dass in unserem Land Krieg herrscht"

David vermisse seinen Vater und seine Großeltern, sagt Anna: „Aber er versteht, dass in unserem Land Krieg herrscht.“ Sein Online-Unterricht beginnt jeden Tag mit einer Schweigeminute. Die Kinder stehen, wo auch immer sie gerade sind, mit gesenktem Kopf vor ihren mobilen Endgeräten und gedenken der im Krieg gefallenen Landsleute. Ab dieser Woche besucht der Sechsjährige zusätzlich eine deutsche Grundschule, um in der Not-Heimat Anschluss zu finden. Die Lehrer haben zugesichert, eine Koppelung mit dem Digitalunterricht aus Odessa zu ermöglichen.

Anna hofft, dass ihr Sohn im nächsten September ins zweite Schuljahr starten kann – zu Hause in der Ukraine. Sie glaubt fest daran, dass der Krieg bis dahin vorbei ist: „Und dass wir dann in einem freien Land voller Liebe und Hilfsbereitschaft leben werden.“

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