Umschwung in Deutschland und der SchweizWie Olaf Scholz' „Zeitenwende“ Europa prägt

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Scholz Macron DPA 280222

Bundeskanzler Olaf Scholz mit Frankreichs Staatspräsident Emanuel Macron.

Keine Woche nach der russischen Invasion in der Ukraine stehen in ganz Europa politisch lange Zeit für unmöglich gehaltene Positionen zur Disposition. Deutschland bekennt sich mit einer Investition nie dagewesenen Ausmaßes zur Bundeswehr, die Schweiz weicht von ihrer Neutralität ab und in Finnland befürwortet ein Großteil der Bevölkerung den Beitritt zur Nato – erstmals in der Geschichte des Landes. Hat die von Olaf Scholz beschworene „Zeitenwende“ in Europa begonnen?

Fest steht: Ausgerechnet Wladimir Putins Aggressionen haben dazu geführt, dass sich Europa so einig ist wie nie. Staaten wie Polen und Ungarn, die zuletzt kritisch gegenüber Vorgaben aus Brüssel waren, tragen plötzlich Sanktionen gegen Russland mit und nehmen Flüchtlinge auf. 

„Zeitenwende“: Grüne Politik mit Braunkohle und Ende des deutschen Pazifismus

Fast schon mantraartig verwendeten Bundeskanzler Olaf Scholz, seine Außenministerin Annalena Baerbock und auch Wirtschaftsminister Robert Habeck den Begriff der „Zeitenwende“ bei der Sondersitzung des Bundestags am Sonntag. Baerbock betonte, man sei am Donnerstag in einer anderen Welt aufgewacht.

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Dieses andere Welt bringt selbst Grünen-Politiker dazu, das Ende von Braunkohle- und Atomkraftwerken zu überdenken, die SPD rückte von der Gas-Pipeline Nord Stream 2 ab und sendete damit ein deutliches Zeichen nach Russland.

Der Begriff der „Zeitenwende“ könnte das erste prägende Wort der Kanzlerschaft von Olaf Scholz sein. Der SPD-Politiker fand im Bundestag für seine Verhältnisse deutliche Worte, lud die Verantwortung des Kriegs alleine auf Russlands Präsidentin Wladimir Putin ab.

Viel wichtiger war aber noch eine Ankündigung, mit der Scholz seine „Zeitenwende“ untermauerte: 100 Milliarden Euro Sondervermögen für die Bundeswehr und das Versprechen, künftig mehr also zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts für die deutsche Verteidigung bereitzustellen. Das Ende des Pazifismus in Deutschland schien unmöglich, vier Tage Krieg in der Ukraine ließen Scholz diese vormals rote Linie überschreiten.

Finnland, Schweden und die Schweiz brechen mit ihrer Neutralität

Das Überschreiten der roten Linien zieht sich seit Donnerstag quer durch Europa: Finnland und Schweden genehmigten erstmals in ihrer Geschichte Waffenexporte in die Ukraine, die finnische Ministerpräsidentin Sanna Marin sprach offen über einen möglichen Nato-Beitritt ihres Landes. Man halte sich alle Optionen offen.

Eine aktuelle Umfrage zeigt: 53 Prozent der Finnen befürworten einen Beitritt, erstmals in der Geschichte des Landes gibt es dafür eine Mehrheit. Finnland fühlt sich durch eine gemeinsame Landesgrenze akut von Russland bedroht, die Sozialdemokratin Marin sagte unlängst: „Wir bereiten uns auf russische Aggressionen vor.“

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Auch in der Schweiz kommt es zu einer historischen Kehrtwende: Das Land, das sich seit dem Wiener Kongress von 1815 stets für seine Neutralität gerühmt hatte, unterstützt seit Montag die EU-Sanktionen gegen Russland. Ein Großteil der Vermögen der russischen Elite liegen bei Schweizer Banken, dieser Schritt dürfte Russland schwer treffen.

Politisches neutrales Singapur verhängt ebenfalls Finanzsanktionen

Auch international haben die russischen Aggressionen große Folgen: Singapur, ebenfalls politisch neutral, beschloss weitere Finanzsanktionen gegen Russland, das Russland durchaus wohlgesonnene China votierte im UN-Sicherheitsrat nicht gegen eine Resolution zur russischen Invasion, sondern enthielt sich nur. Auch das zeigt: Wladimir Putin brechen immer mehr strategische Bündnispartner auf internationaler Bühne weg.

Olaf Scholz' „Zeitenwende“ könnte in wenigen Jahren das Äquivalent zu Angela Merkels „Wir schaffen das“ werden. Denn Wladimir Putins Aggressionen haben die weltpolitische Ordnung und vor allem die Standpunkte vieler europäischer Staaten grundlegend auf den Kopf gestellt. Sie zeigen aber auch: Einigkeit tritt an die Stelle von Streit und nationalstaatlichen Interessen – vor allem in Europa. (shh)

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