Ukrainischer Minister in Köln„Mein Land spielt nicht die Karte von Schmerz und Leid"

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Ukraine EU

Demonstranten in Berlin mit den Flaggen der EU und der Ukraine

  • Oleksii Tschernyschow ist ukrainischer Minister für die Entwicklung der Gemeinden und Regionen und derzeit in deutschen Städten zu Gast.
  • Beim Interview in Köln erklärt er, warum der Wiederaufbau der Ukraine schon jetzt beginnen muss und wann für ihn der Krieg vorbei ist.
  • Sein Besuch in Deutschland erinnere ihn ans Zappen durch die Angebote der verschiedenen TV-Sender.

Herr Minister, Sie werben derzeit in Deutschland für den EU-Kandidatenstatus der Ukraine. Kommen Sie sich vor wie auf einer Mission Impossible? Oleksii Tschernyschow: Das gefällt mir (lacht). Aber es ist ganz und gar nicht so. Die Mission ist absolut erfüllbar. Die Ukraine hat 2014 ihre Beitrittsvereinbarung mit der EU unterzeichnet, in dem Jahr, in dem Russland die Krim annektierte. Seither hat mein Land viel dafür getan, die Beitrittskriterien zu erfüllen. Es ist die EU-Kommission selbst, die uns heute entscheidende Fortschritte bescheinigt, so dass wir nun mit Recht einen positiven Ausgang des laufenden Prüfverfahrens erwarten.

Und auch eine Zustimmung der EU-Staats- und Regierungschefs?

Wir hoffen das. Von einigen Ländern kommt ausgesprochen großer Rückhalt, von anderen weniger. An denen müssen wir noch arbeiten.

An welche Länder denken Sie?

Dänemark oder die Niederlande zum Beispiel verdienen unsere besondere Aufmerksamkeit.

Oleksii Tschernyschow

Oleksii Tschernyschow

Wo sehen Sie Deutschland?

Deutschland ist ein großes, einflussreiches Land. Ich würde es in der Mitte der Unterstützungsskala anordnen. In der deutschen Bevölkerung liegt die Unterstützung für einen EU-Beitritt der Ukraine bei 62 Prozent. Dabei reden wir im Moment erst einmal nur über den Kandidatenstatus. Ich gehe daher davon aus, dass die Zustimmungsrate hierfür noch höher ist.

Was bringt Ihnen dieser Status denn für den Augenblick?

Wir wissen selbst, dass es bis zur EU-Mitgliedschaft noch Jahre daher wird und dass wir noch einen anstrengenden Weg der Reform unserer Infrastruktur und unserer Wirtschaft vor uns haben, um die Kopenhagen-Kriterien zu erfüllen. Dafür brauchen wir nach meiner festen Überzeugung professionelle Unterstützung seitens der EU. Die Ukraine ist in einer entscheidenden Phase. Je eher wir mit der Umsetzung des Anforderungskatalogs an eine EU-Mitgliedschaft beginnen können, desto besser.

Stimmen Sie zu, dass es bei den Beitrittskriterien keinen „Kriegsrabatt“ für die Ukraine geben kann?

Absolut! In meinem Werben für den Kandidatenstatus spielt der Krieg keine Rolle. Unserer Regierung geht es nicht um einen EU-Beitritt durch die Hintertür oder auf der Überholspur. Die EU muss ihre Entscheidung einzig und allein unter der Rücksicht treffen, die Union stärker, sicherer und wohlhabender zu machen, dynamischer auch oder – wenn Sie so wollen – digitaler. Das sind die Parameter, die auch für uns gelten. Die Ukraine spielt nicht die Karte von Schmerz und Leid.

Zur Person

Oleksii Tschernyschow, geb. 1977, ist seit 2020 Minister für die Entwicklung der Gemeinden und Regionen. Er stammt aus Charkiw und hat an der dortigen Universität einen Abschluss in Wirtschaftswissenschaften erlangt. Danach studierte er Jura. Tschernyschow war unternehmerisch in der Telekommunikationsbranche tätig und gründete 2012 die Investmentgesellschaft „VI2 Partners“. 2019 wurde Tschernyschow zum Leiter der Staatsverwaltung im Oblast (Bezirk) Kiew ernannt. Neben seinem Ministeramt ist er auch Mitglied des Nationalen Rats zur Korruptionsbekämpfung. Tschernyschow ist verheiratet und hat mit seiner Frau Svetlana Tschernyschowa zwei Söhne. (jf) 

Politisch gesehen, war der Kandidatenstatus aber auch von hoher Symbolwirkung. Die EU würde der Ukraine ihren Platz in der europäischen Familie, unter dem einen Dach des Hauses Europa zuerkennen.

Das ist seit langem die erklärte Position der EU. Die Ukraine ist ein angestammtes Mitglied der europäischen Familie. Wir teilen und verteidigen europäische Werte und Prinzipien. Jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, das formell zu bestätigen.

Sie haben in Deutschland auch Gespräche für den Wiederaufbau geführt, und das, obwohl im Osten der Ukraine noch erbittert gekämpft wird?

Unser Wiederaufbauplan unterscheidet drei aufeinander folgende Phasen. Gegenwärtig stehen wir in der Tat noch in Phase eins, der Kampfphase. Unter den Bedingungen des Kriegsrechts müssen wir unsere militärischen, administrativen und ökonomischen Strukturen sichern und stabilisieren, aber zum Beispiel auch zerstörte kritische Infrastrukturen reparieren. Das muss sofort beginnen, auch wenn der Krieg noch nicht vorüber ist. Danach müssen wir in Phase zwei zum Beispiel die Versorgung mit Wasser, Strom oder Fernwärme wiederherstellen und den Wohnungsbestand reparieren oder neu aufbauen. Das wird ein oder zwei Jahre beanspruchen. In Phase drei brauchen wir einen „Marshallplan für die Ukraine“ mit einer grundlegenden Modernisierung des ganzen Landes. Das wird fünf Jahre und länger dauern.

Wann beginnt Phase zwei? Oder anders gefragt: Wann ist der Krieg vorbei?

Meine Antwort darauf ist ganz klar: Der Krieg ist vorbei, wenn Putin besiegt ist. Dazu kann es auf dem Schlachtfeld kommen oder durch einen inneren Zusammenbruch des Regimes in Moskau.

Und wann ist Putin „besiegt“? Wenn er seine Truppen aus der Ostukraine hinter die russische Grenze zurückzieht – oder auch aus der Krim und dem Donbass?

Für den Augenblick sollten wir uns auf den Stand konzentrieren, den wir vor dem 24. Februar hatten. Unser Fernziel ist natürlich die Wiederherstellung der vollen Souveränität über das gesamte ukrainische Staatsgebiet.

Zurzeit sieht es noch nicht einmal danach aus, dass das erstgenannte Ziel erreichbar wäre.

Richtig ist, dass der Krieg in eine wirklich entscheidende Phase eingetreten ist. Darum unterstreichen wir unsere Forderung nach schweren Waffen. Deutschlands Haltung ist hier von großer Bedeutung. Nach meinem Eindruck geht es hier voran, wir sind aber noch nicht am Ziel. Wir hoffen, es in aller allernächster Zukunft zu erreichen.

Was war das Ziel Ihrer Gespräche in Nordrhein-Westfalen?

Angesichts der föderalen Struktur Deutschlands ist es uns wichtig, unseren Wunsch, den EU-Kandidatenstatus zu erlangen, auch in den Hauptstädten wichtiger Bundesländer vorzutragen. NRW gehört zweifellos dazu. Ich habe gelernt, dass NRW – für sich betrachtet – die siebtgrößte Wirtschaftsmacht in der EU ist. Auf mittlere Sicht werden hiesige Unternehmen auch eine wichtige Rolle beim Wiederaufbau spielen. Erste Gespräche mit Firmen wie Bayer habe ich bereits geführt. Die Chemische Industrie ist bedeutsam für die Landwirtschaft – ein Standbein unserer Volkswirtschaft. Ich denke aber auch an den Hoch- und Tiefbau, die Stahlindustrie. Wir wünschen uns, dass viele NRW-Firmen möglichst bald in die Ukraine kommen und dort ihr Geschäft aufbauen oder intensivieren. Das gilt besonders für Unternehmen, die sich wegen des Krieges aus Russland zurückgezogen haben.

Wie fühlt es sich für Sie an, aus einem Land im Kriegszustand in Städte wie Köln oder Düsseldorf zu kommen, wo die Menschen unbeschwert ihr Leben leben?

Es ist, wie wenn Sie vor dem Fernseher sitzen und durch die Programme zappen. Auf dem einen Kanal läuft eine Kriegsdoku, auf dem Kanal daneben eine Sommer-Sitcom. So ist das – alles gleichzeitig, irgendwie unwirklich und doch real. Sobald ich zurück in Kiew bin, schalte ich wieder um.

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