Kölner Eltern und Lehrer diskutierenWann kann ein Kind aufs Gymnasium?

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Die Runde diskutierte in den Redaktionsräumen des Magazins.

Die Runde diskutierte in den Redaktionsräumen des Magazins.

Wenn Elternsprechtag ist, liegen die Nerven oft blank. Vor allem der Übertritt zur weiterführenden Schule birgt Sprengstoff. An der Frage: „Bekommt mein Kind eine gymnasiale Empfehlung?“ scheint die Zukunft von Zehnjährigen zu hängen. Sind Eltern zu ehrgeizig? Lehrer nicht kompetent genug? Sorgt das dreigliedrige Schulsystem mit der frühen Aufteilung für Stress und verpfuschte Kindheiten? Wir haben Thesen aufgestellt und Eltern mit Lehrern darüber diskutieren lassen.

These 1: Es ist Aufgabe der Grundschule, jedes Kind zu befähigen, ein Gymnasium zu besuchen.

Naegele Die Grundschule ist mit dieser Aufgabe mehrfach überfordert. Damit müsste sie das Problem unseres Schulsystems ausgleichen. Jedes Elternteil will für sein Kind die bestmögliche Ausbildung. Und das bedeutet bei uns immer noch: Das Kind muss aufs Gymnasium. Die Grundschule soll das also bewirken, gleichzeitig die individuellen Kompetenzen des Kindes fördern – und den Eltern damit die Entscheidung abnehmen, wie der Lebensweg des Kindes weitergeht. Ich möchte nicht in einer dritten oder vierten Klasse Grundschullehrerin sein. Der Druck ist hier extrem groß, vor allem in bürgerlichen Vierteln, in denen Eltern um die richtige Zuweisung ihrer Kinder kämpfen. Da geht es zur Sache – und die Grundschullehrer sind nicht zu beneiden. Wer soll schon bei einem Zehnjährigen eine Prognose stellen, wie er sich weiter entwickelt? Wir sind das einzige Land in Europa, das diesen Schnitt so früh ansetzt.

Baumgarten Das ist doch schlicht nicht möglich. Jedes Kind ist anders. Manche sind prädestiniert, es auf dem Gymnasium zu versuchen. Anderen fehlt vielleicht das Umfeld. Es ist doch nicht nur die Schule, die dafür verantwortlich ist. Daran hängt viel mehr – eben die Lebensumstände des Kindes.

Hinz Ich erlebe es an der Grundschule selten, dass Eltern mit dieser Forderung kommen. Es ist unsere Aufgabe, Kinder in ihren Kompetenzen zu stärken, in den sozialen zum Beispiel, ihnen aber auch Leistungsfähigkeit zu verleihen, ihnen Wissen zu vermitteln. Ich finde es allerdings schade, dass es immer bloß ums Gymnasium gehen soll. Im Idealfall begleiten wir Kinder ab der ersten Klasse vier Jahre lang, erleben ihre Entwicklung. Klar kann das Gymnasium ein Ziel sein – es muss es aber nicht. Man sollte genau schauen, welche Schulform für welches Kind stimmig ist. Es ist gut, dass unsere Empfehlungen am Ende der vierten Klasse nicht bindend sind – diese Verantwortung wollen wir gar nicht übernehmen.

Störbrock Am Gymnasium erlebe ich manchmal, dass die Grundschulen für Defizite der Kinder verantwortlich gemacht werden. Also rückwirkend. Ich bin Deutschlehrerin – gerade bei der Rechtschreibung ist das ein Thema. Es gibt ja verschiedene Methoden, Kindern Rechtschreibung zu vermitteln. Und die entsprechende, angewendete Methode ist dann eben in Augen mancher Eltern schuld, dass ihr Kind nun am Gymnasium Schwierigkeiten hat.

Tichelkamp Wenn ein Kind keine gymnasiale Empfehlung bekommt, wird das von vielen Eltern als individuelles Scheitern empfunden. Je bürgerlicher das Umfeld, desto stärker. Eltern projizieren ihre eigene Biografie auf ihr Kind – und wenn das Kind versagt, empfinden das die Eltern als eigenes Versagen. Nur neun Prozent aller Kölner Kinder besuchen eine Hauptschule. Wer will schon sein Kind dorthin schicken – wenn es damit automatisch stigmatisiert wird? Die Wahrnehmung ist: Diese Kinder haben gar nichts geschafft. Da ist es verständlich, wenn sich Eltern gegen eine entsprechende Empfehlung wehren. Allerdings: Die Eltern sind eben genauso in der Pflicht. Sie müssen dem Kind ein lernfreundliches Umfeld bieten, das all das überhaupt erst möglich macht.

Magazin Aber es wird doch immer von Chancengerechtigkeit gesprochen. Muss dann die Grundschule nicht genau dafür sorgen? Dass auch schwache Kinder das Gymnasium besuchen können?

Hinz Das kann man nicht generell so sagen. Sicher gibt es Elternhäuser, in denen das so ist. Es gibt aber auch die, in denen sich Kinder in ihrem Tempo und ihren Anlagen entsprechend entfalten können.

Störbrock Die Frage ist: Was will man für sein Kind? Wenn alle aufs Gymnasium gehen würden – eine äußere Differenzierung ist hier ja wenig gegeben. Manche Kinder wären heillos überfordert und damit unglücklich. Der Druck ist dann viel zu hoch.

These 2: Kinder werden von der Erwartungshaltung ihrer Eltern erdrückt.

Naegele Wenn Eltern mit ihren Kindern in die Infoveranstaltungen zu unseren fünften Klassen kommen, dann reden wir übers Abitur. Ich versuche immer verzweifelt, das Thema erst mal auszulassen. Daran sieht man aber, welche Zukunftsängste Eltern heute haben. Dabei geht es natürlich immer auch um Statusverlust – also, den der Eltern. Das soll die Schule dann richten. Dieser Anspruch schwingt, oft auch unausgesprochen, im Hintergrund mit. Wenn das Kind an einer Schulform ist, die seinen Möglichkeiten nicht entspricht, dann wird der Druck natürlich massiv.

Tichelkamp Bei der Abschlussfeier unserer Kita saßen wir abends alle am Lagerfeuer und es ging nur darum, auf welche Gymnasien die Kinder nach den vier Jahren Grundschule gehen sollen – die noch nicht mal angefangen hatten. In Zeiten des globalen Wettbewerbs machen sich viele Eltern jetzt schon Gedanken, wie ihre Kinder in ein paar Jahren international mitmischen können. Ich kenne ein Elternpaar, das seinen Kindern bewusst Namen gegeben hat, die man auch im Ausland gut aussprechen kann. Damit sie es später an der Uni in England oder Frankreich leichter haben werden.

Magazin Wie machen Sie sich selbst davon frei, zu viel Druck auf Ihre Tochter auszuüben?

Tichelkamp Mit ständiger Selbstreflexion… Nein, nur Spaß. Aber ich bin frankophil und fände es schön, wenn meine Tochter so langsam französisch lernen würde. Momentan ist sie sich aber sicher, dass sie Pferdetrainerin werden will – und sagt, das mit dem Französisch braucht sie dafür ja nicht. Dann werde ich sie sicher auch nicht hintragen.

Hinz Es ist wichtig, Vertrauen zu haben. Natürlich fällt mir das als Mutter auch nicht immer leicht. Aber: Die Kinder entwickeln sich schon. Sie gehen ihren Weg. Es reicht manchmal, nur Vorbild zu sein – indem man sich selbst für vieles interessiert. Wer seinem Kind vertraut, gibt ihm schon eine Menge mit.

Naegele Dem stimme ich unbedingt zu. Eltern haben zu wenig Vertrauen – und zwar in ihre eigene Erziehungsleistung und in ihre Kinder. Sie mögen nicht recht daran glauben, dass die Dinge schon irgendwie gelingen. Und vertrauen damit auch der Schule nicht. Erfolge sieht man aber eben oft nicht sofort – das braucht Zeit.

Baumgarten Das ist sicher richtig, aber diese Zeit haben wir als Eltern eben nicht! Wir müssen uns jetzt schon für die nächste Schulform entscheiden, die Kinder sind zehn. Ich bin Französin, also wünschen mein Mann und ich uns, dass unser Kind auf eine deutsch-französische Schule geht. Die gibt es bei uns in der Nähe sogar – dabei handelt es sich um ein Gymnasium. Nun ist mein Kind zwar sehr kreativ, sehr interessiert, sozial gut drauf. Aber mit seinen Noten wird es schwierig. Ich fände es schön, wenn er sich dort trotzdem ausprobieren könnte – wenn es nicht klappt, wechselt er eben.

Naegele Vielleicht ist es ja nicht nur das Gymnasium, das Ihre Vorstellungen erfüllen kann. Dieses Weltoffene, Flexible, was Sie sich wünschen. Eine bilinguale Realschule zum Beispiel, oder eben auch eine Gesamtschule. Es geht bei der Entscheidung nach der vierten Klasse oft nur darum, welches Gymnasium nun das richtige ist – und nicht, welche Schule überhaupt.

Störbrock Es ist aber durchaus richtig, was Frau Baumgarten sagt. Einigen Schülern fehlt sicherlich die Zeit. Gerade durch G8 kann es passieren, dass Kinder nicht mehr die Möglichkeit haben, sich in ihrem eigenen Tempo zu entwickeln. In der Erprobungsstufe herrscht Druck: Bleibe ich auf dem Gymnasium oder nicht? Es gibt Kinder, die in vielen Fächern Nachhilfe bekommen, über den Ganztag hinaus. Die haben kaum Freizeit mehr.

These 3: Der Schulwechsel nach der vierten Klasse ist zu früh.

Baumgarten Erwarten Sie von uns ein Nein? (lacht…)

Tichelkamp Ich würde das nicht zu hundert Prozent unterschreiben. Es gibt sicher auch Kinder, Schnelllerner, für die ist das System geeignet. Bei denen ist früh klar, dass sie ihren Weg auf dem Gymnasium machen werden. Grundsätzlich aber sehe ich, dass bei Neunjährigen große kognitive Unterschiede bestehen. Diesen Kindern tut man keinen Gefallen, sie schon früh zu kategorisieren.

Hinz Dazu kommt, dass die Kinder immer jünger werden, auch das Einschulungsalter ist nach hinten gerückt. Wenn sie ihre Empfehlungen in der vierten Klasse bekommen, sind sie teilweise erst neun. Wir versuchen als Grundschullehrer, in kleinen Schritten voranzugehen, die Kinder mit Lob positiv zu bestärken. Und dann kommt am Ende der vierten Klasse plötzlich diese harte Kategorisierung. Das ist für manche Kinder schwer.

These 4: Es sind vor allem soziale Ängste, die für Eltern eine gymnasiale Empfehlung erstrebenswert machen.

Naegele Darüber wird in unserer Gesellschaft nicht offen gesprochen. Dass das ein Grund für das Streben aufs Gymnasium ist, ist ein Tabu. Da wird stattdessen über die Finessen von Leistungsmessung diskutiert. In der Realität gilt aber immer noch der alte Spruch: Spiel nicht mit den Schmuddelkindern. Man sucht die Schule für sein Kind, wo man keinen schlechten Umgang vermutet – wie auch immer sich dieser definiert. Das kann das leistungsschwache Kind sein, das Migrantenkind, das behinderte Kind. Leider wird das bis heute nicht offen diskutiert.

Baumgarten Als ich mich über Alternativen, also andere Schulen, informiert habe, bekam ich von anderen Müttern zu hören: Oh, dort muss man aber auf seine Sachen aufpassen! Dort wird sicher geraucht! Die Kinder stammen aus schwierigen Familienverhältnissen! Dann habe ich andererseits eine sehr bürgerliche Schule besucht – und den sozialen Druck dort förmlich gespürt. Alles sollte perfekt sein, das Kind, die Familie. Haben die Kinder dort überhaupt die Möglichkeit, sich ganz frei zu entfalten?

Tichelkamp Aber das beginnt doch alles schon viel früher. Bereits bei der Wahl der Grundschule! Das sehe ich bei uns in der Südstadt, aber auch bei Freunden in Berlin, die man dem linksliberalen Bürgertum zuordnen würde und die sich gegen Gentrifizierung aussprechen – die suchen sich den Bezirk, in dem sie wohnen wollen, danach aus, welche Grundschulen ihnen dann zugewiesen werden.

Hinz Dabei ist doch gerade das eine Chance der Grundschule – dieses breite Spektrum, mit dem die Kinder konfrontiert werden. Diejenigen mit einem schwierigeren Background können aufgefangen werden. So sollte das auch weitergehen in der weiterführenden Schule.

These 5: Kinder sind heute überbehütet.

Baumgarten Wenn dem so ist, ist es ein Fehler. Das Leben ist nicht immer schön und leicht. Wenn Kinder das erst als Erwachsene merken, haben sie ein Problem.

Störbrock Das kann man nicht pauschal sagen. Vereinzelt gibt es diese Szenarien, in denen Eltern die Konflikte der Kinder austragen. Da sitzen Eltern und Lehrer zusammen und diskutieren – ohne die betreffenden Kinder. Ich erlebe öfter, dass der ausgeübte Druck der Eltern ein größeres Problem ist als übertriebener Schutz.

>> Hier geht es weiter zu den Thesen 6 bis 10.

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