Kampf um TomWenn das Jugendamt keine Hilfe ist – eine Mutter erzählt

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Warten auf die Eltern: Fälle wie der von Tom häufen sich laut einer Untersuchung.

Warten auf die Eltern: Fälle wie der von Tom häufen sich laut einer Untersuchung.

  • Nach einem Mobbingvorfall in der Schule diagnostiziert ein Kinderarzt bei Tom eine zu enge Eltern-Kind-Symbiose.
  • Für seine Eltern aus dem Bergischen Land beginnt damit ein Streit mit dem Jugendamt, um Unterbringung, Schule und Betreuung des autistischen Jungen.
  • Anonym erzählt seine Mutter, wie es ihrem Sohn zwei Jahre immer schlechter ging – und wie sie machtlos dabei zusehen musste.
  • Dieser Text erschien zum ersten Mal am 7. Juni 2020. Aus unserem Archiv

Tom sei immer ein diskussionsfreudiges Kind gewesen, sagt Lena Müller über ihren Sohn. „Er hat das Talent, anderen auf die Füße zu treten, ohne es zu wollen.“ Auf dem Gymnasium sei er damit ständig angeeckt, bei Schülern und Lehrern gleichermaßen. Tom ist schnell das Mobbingopfer. Nach einer Schlägerei mit Mitschülern verbringt er wegen eines Schädel-Hirn-Traums drei Nächte im Krankenhaus. Dann weigert der Junge sich, wieder in die Schule zu gehen.

Die dreifache Mutter, blonder Pferdeschwanz, schwarze Lederjacke, kommt allein zum Gespräch, will nicht, dass ihr Sohn wieder einmal mithören muss, wie über ihn geurteilt wird. Denn nach diesem Vorfall in der Schule beginnt für den heute 15-Jährigen aus einem Dorf im Bergischen Land eine Odyssee durch Arztpraxen, Jugendämter, eine psychiatrische Klinik, ein Wohnheim und Gerichtssäle. Am Ende hat er fast zwei Jahre Schule verpasst. Nicht alles, aber vieles, was Müller erzählt, lässt sich nachprüfen. Sie befindet sich aktuell in einem Sorgerechtsstreit vor dem Oberlandesgericht, will Toms und ihre Geschichte deshalb nur anonym erzählen. Beide heißen eigentlich anders.

Kinderarzt diagnostiziert zu enge Eltern-Kind-Symbiose

Müller und ihr Ex-Mann gehen nach den Vorfällen in der Schule mit Tom zu einem Bonner Kinderpsychiater. Seine Diagnose: zu enge Eltern-Kind-Symbiose. „Der Kinderarzt bezeichnete unseren Sohn als hochintelligent, manipulativ und narzisstisch“, erzählt Müller. Er würde die Eltern um den Finger wickeln, es bestünde eine zu enge Verbindung, die man lösen müsse. Er empfahl Waldspaziergänge für die Eltern, verschrieb ein Neuroleptikum fürs Kind, von dem Tom innerhalb weniger Wochen fast 20 Kilogramm zunahm und ständig müde war.

An dieser Einschätzung hält das Jugendamt, an das sich Müller hilfesuchend wandte, auch eineinhalb Jahre später noch fest. Toms langjähriger Kinderarzt, ein konsultierter Psychiater und weitere Pädagogen, die mit ihm Kontakt hatten, sind mittlerweile zu einer anderen Diagnose gekommen: Tom ist Autist. Er hat einen überdurchschnittlichen IQ von 140, belegt durch einen Intelligenztest, weist aber Defizite in der sozialen Interaktion auf. Er kann sich nicht gut in andere hineinversetzen, Gefühle schwer ausdrücken, reagiert empfindlich auf Veränderungen.

Trotz seines hohen IQs bringt das Jugendamt den Jungen nach dem Aufenthalt in einer psychiatrischen Klinik in einer Einrichtung unter, in der er nur einen Hauptschulabschluss machen kann. Als seine Eltern die Zustimmung verweigern, entzieht ihnen das Gericht in einem Eilverfahren ohne Anhörung Teile des Sorgerechts. Zeitweise dürfen sie ihn nur alle zwei Wochen unter Aufsicht besuchen.

Jugendamt und Pflegerin nehmen Sorgen der Eltern nicht ernst

„Mein Sohn hat sich in dieser Zeit rückwärts entwickelt“, sagt Müller. „Er wurde immer kindischer und unsicherer.“ In der Wohngruppe mit schwererziehbaren und teils gewalttätigen Kindern hat Tom Angst, in der Schule ist er dauerhaft unterfordert. Jegliche Versuche, mit der vom Gericht bestellten Pflegerin und dem Jugendamt über die belastende Situation zu sprechen, scheitern laut Müllers Erzählungen. „Uns wurde immer klar gemacht, dass wir als Eltern keine Ahnung haben und die Pädagogen die Fachleute sind.“ Sie habe gedacht, so etwas würde es in einem Rechtsstaat nicht geben. Bis sie Carola Wilcke kennenlernte.

Die Sozialpädagogin aus Görlitz kennt Fälle wie den von Lena Müller und Tom. Sie unterstützt als Verfahrensbeiständin Mütter in Prozessen gegen das Jugendamt, berät Eltern in einer Facebookgruppe mit etwa 1500 Mitgliedern. Wilcke lässt sich Unterlagen schicken, erkennt auf einen Blick Verfahrensfehler. Viele geschehen in Folge von Überlastung, ist sich die Expertin sicher.

„Wir unterstellen den Jugendamtsmitarbeitern keine böse Absicht“, erklärt sie. „Im Nachhinein werden Fehler aber meistens vertuscht. Entschuldigungen hören die Eltern fast nie.“ Wilcke fordert die flächendeckende Einrichtung von unabhängigen Ombudsstellen, an die sich Eltern wenden können. Die Familiengerichte seien oft keine Hilfe, sie folgten in der Regel der Empfehlung des Jugendamts. Auch Müller hatte immer den Eindruck, dass Gericht und Jugendamt Hand in Hand arbeiteten und an der Inobhutnahme festhielten, obwohl es ihrem Sohn immer schlechter ging und es in der Unterbringung ständig Probleme gab. Tom lief mehr als einmal dort weg, wollte unbedingt nach Hause.

Gefährlicher „Trend“ in Studie untersucht

Der Hamburger Soziologe Wolfgang Hammer hat in einer im November 2019 veröffentlichten Studie über 150 ähnliche Fälle betrachtet. Er warnt vor dem „Trend“ in Jugendämtern, Kinder wegen einer angeblich zu engen Mutter-Kind-Bindung voneinander zu trennen. Dies wäre nur bei einer akuten Gefährdung des Kindeswohls möglich, die Hammer in seiner kleinen Stichprobe in keinem Fall erkennen kann. Im Gegenteil: Die Jugendlichen in seiner Untersuchung werden während der Fremdunterbringung schlechter in der Schule, zwei Drittel entwickeln Essstörungen.

Er vermutet, bundesweit aufsehenerregende Fälle vernachlässigter Kinder verleiten die Mitarbeiter verstärkt dazu, Inobhutnahmen schneller zu veranlassen. „Dabei gerät dann aus dem Blick, dass das oberste Ziel ein Aufwachsen in der Familie sein sollte“, sagt Wilcke, die mit dem Hamburger Soziologen zusammenarbeitet. Und: Eltern müssten immer aktiv in die Hilfeplanung miteinbezogen werden. Außerdem müsse das Jugendamt nicht nur den Schutz des Kindes, sondern auch seine altersgemäße Förderung sichern.

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All das sei bei Tom nicht geschehen, sagt Wilcke. Er wohnt mittlerweile wieder Zuhause. Zur Schule gehen kann er immer noch nicht. Die vom Gericht bestellte Pflegerin möchte ihn wieder in einer Einrichtung unterbringen, weigert sich immer noch, die Autismus-Diagnose anzuerkennen. Müller hofft nun auf einen Sieg vor Gericht, damit sie und ihr Ex-Mann wieder für Tom entscheiden können.

Dieser Text ist aus unserem Archiv. Er schien zum ersten Mal am 7. Juni 2020.

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