ErziehungKölner Schulleiter: „Wer fleißig und pflichtbewusst ist, lernt auch leichter“

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Schülerinnen in Köln-Höhenberg.

Schülerinnen in Köln-Höhenberg.

Sind „alte“ Tugenden wie Gehorsam und Fleiß in der Erziehung heute noch wichtig? Wie das Pädagogik-Experten und ein Kölner Gymnasial-Direktor einschätzen.

Wenn ein Erwachsener spricht, hat ein Kind nicht mitzureden. Grüßt jemand, wird der Gruß erwidert. Pünktliches Erscheinen wird erwartet. Dinge sind fleißig und sauber zu erledigen. Ansagen von oben werden befolgt. Gute Manieren sind vorausgesetzt.

Vielen Erwachsenen wird die ein oder andere dieser Aussagen bekannt vorkommen, vielleicht sogar alle. Denn lange Zeit galten so genannte „Sekundärtugenden“ wie Höflichkeit, Pünktlichkeit, Ordnung, Fleiß und Gehorsam in Deutschland als Erziehungsstandard. Kinder wuchsen mit diesen Prinzipien oder zumindest in einem solchen Werteumfeld auf. Heute werden Kinder freier und vielfältiger erzogen. Neue Tugenden wie Toleranz und Weltoffenheit sind dazugekommen. Doch wie steht es um die „alten“ Tugenden – sind die in der heutigen Erziehung und im Leben junger Menschen noch wichtig?

Erziehungsmuster: Vom Befehlen zum Beraten

Leicht zu beantworten ist diese Frage in der Tat nicht. Beim Sortieren hilft zunächst ein Blick in die Erziehungshistorie. „Wie sich die Tugenden verändert haben, das lässt sich gut am Wandel der familialen Erziehungsmuster erkennen“, sagt Erziehungswissenschaftler Jan Frederik Bossek von der Universität Köln und bezieht sich dabei auf die Studien von Professorin Jutta Ecarius. „Noch bis in die 1980er Jahre gab es ein dominierendes Erziehungsmuster des Befehlens, bei dem Gehorsam, Pünktlichkeit, Höflichkeit und Geschlechterstereotype wichtig waren.“ Gerade in der Kaiserzeit und später rund um die NS-Zeit setzten Eltern solche Werte in der Erziehung unreflektiert um.

„Mit der Demokratisierung der Gesellschaft etablierte sich ab den 80er Jahren eine Erziehung des Verhandelns, bei der Regeln nicht mehr starr waren, sondern mit dem Nachwuchs ausgehandelt wurden“, erklärt Bossek. Heute habe sich das zu einer „Erziehung des Beratens“ weiterentwickelt. „Eltern wollen ihr Kind darin unterstützen, seinen optimalen Lebensweg zu gestalten.“ Anders als beim Befehlen zeige man dem Kind hier Optionen auf. „In diesem Rahmen sind auch neue Tugenden wichtig geworden, zum Beispiel Flexibilität, Authentizität, Selbstfürsorge und die Anerkennung anderer.“ Die Erziehung des Befehlens sei jedoch nicht völlig verschwunden. „Diese Tugenden haben zwar nicht mehr so ein großes Gewicht, doch es gibt auch heute noch Befehlshaushalte.“

Erziehungswissenschaftler Jan Bossek

Erziehungswissenschaftler Jan Frederik Bossek von der Universität Köln

Welche Tugenden heute am verbreitetsten sind, lasse sich schwer ermitteln, auch weil die Datenlage dünn sei. „Heute ist es zudem für die Gesellschaft immer schwieriger, sich auf Werte und Tugenden zu einigen, es gibt einen ethisch offenen Wertehorizont“, sagt Bossek. „Welche Tugenden Eltern ihrem Kind weitergeben, lässt sich nicht generalisieren und hat auch mit dem Lebensentwurf und dem Milieu zu tun.“ Eine Studie von 2008 habe etwa gezeigt, dass im Milieu der „Etablierten“, in dem Status und Leistung eine Rolle spielten, großen Wert gelegt werde auf Höflichkeit und Benehmen. Im Milieu der „Hedonisten“ wiederum, das sich gerne in subkulturellen Gegenwelten bewege, würden Benehmen und Manieren dagegen eher abgelehnt. Und doch gebe es quer durch die Milieus insgesamt ein großes Patchwork verschiedener Tugenden.

Was gehört sich? Viele Tugenden sind heute schwer zu definieren

„Das Schöne an einer offeneren Gesellschaft ist, dass viele Erziehungswege möglich sind“, sagt Ulric Ritzer-Sachs von der Onlineberatung der Bundeskonferenz für Erziehungsberatung (bke). „Da es heute aber keinen gesellschaftlichen Wertekonsens mehr gibt, sind Eltern auch verunsicherter, was gut und angemessen ist und müssen das selbst ausgleichen.“ Da gebe es riesige Unterschiede. „Im Extremfall dürfen die Kinder entweder machen, was sie wollen oder sie sollen brav sein und nicht auffallen.“ Manchen Eltern sei es wichtig, dass ihr Kind einer Konvention entspreche, anderen nicht. „Viele Tugenden haben heute auch ein Definitionsproblem: Was zum Beispiel sind denn gute Manieren?“

Ulric Ritzer-Sachs von der Bundeskonferenz für Erziehungsberatung

Ulric Ritzer-Sachs von der Onlinekonferenz der Bundeskonferenz für Erziehungsberatung

Was die Erwartungen angeht, wie sich Kinder verhalten sollten, gibt es nicht selten große Unterschiede zwischen den Generationen – auch weil die Älteren oft unterbewusst das weitergeben, was sie in der eigenen Kindheit gelernt haben. „Ich glaube schon, dass es eine Generationenfrage ist“, sagt Ritzer-Sachs. „Ich bin fast 60 und musste als Kind beim Spazierengehen immer grüßen – wenn ich auch noch die Mütze gezogen habe, gab es sogar ein paar Pfennige“, erzählt er. „Und wenn mich heute ein Nachbarskind nicht grüßt, finde ich das im ersten Moment komisch. Dann fällt mir auf: Ich habe ja auch nicht gegrüßt, warum soll das Kind das denn tun?“ Respekt und Höflichkeit gehe schließlich in alle Richtungen und Kinder müssten nicht aus Prinzip höflich sein zu Erwachsenen. „Ich finde es gut, dass der blinde, hierarchische Gehorsam weggebrochen ist und man nicht mehr nur jemanden respektieren muss, weil er älter, strenger oder vermeintlich schlauer ist.“

So etwas wie die aktuelle Jogginghosen-Diskussion habe auch mit von alten Tugenden geprägten Annahmen zu tun. „Dabei geht ein Schüler nicht automatisch mit mangelndem Respekt in die Schule, nur weil er das anzieht, worin er sich wohlfühlt. Das Outfit sagt nichts darüber aus, was für ein Mensch da drin steckt“, so Ritzer-Sachs. Andererseits hätten sich die Generationenverhältnisse in vielen Familien heute informalisiert, erklärt Jan Bossek. „Ältere sehen die junge Kultur nicht mehr automatisch als Faux Pas an, viele solidarisieren sich etwa mit der ‚Fridays for Future‘-Bewegung.“

Sekundärtugenden spielen auch heute noch eine Rolle

Trotz aller Tugend-Diskussionen ist indes klar: Eine Gesellschaft funktioniert nur, wenn es ein paar gemeinsame Werte und Normen gibt. „Höflichkeit, Toleranz und Respekt sind wichtig für eine Gemeinschaft“, sagt Ulric Ritzer-Sachs, „Kinder profitieren davon, wenn sie diese Werte kennen. Aber sie sollten auch für sich entscheiden dürfen, wie weit sie die mitgehen.“ Viele Kinder seien heute freundlich und respektvoll. Es komme aber sehr darauf an, was Eltern ihnen vorlebten. „Wenn sie morgens die Erzieher nicht grüßen, wird es das Kind auch nicht tun. Und ich finde, das darf man schon bedauern.“

Georg Scheferhoff

Georg Scheferhoff ist Schulleiter des Schiller-Gymnasiums Köln.

Auch und gerade in Kita und Schule sind Regeln des Miteinanders nach wie vor unverzichtbar. „In der Schulgemeinschaft ist es uns wichtig, einen entspannten, freundlichen, respektvollen Umgang miteinander zu pflegen“, sagt der Schulleiter des Kölner Schiller-Gymnasiums Georg Scheferhoff. „Wir schauen daher durchaus auf Sekundärtugenden wie Höflichkeit, Pünktlichkeit, Fleiß und Sauberkeit, denn all das spielt im Erziehungsprozess und im Miteinander eine Rolle.“ Kinder profitierten auch heute noch davon, wenn sie solche Tugenden besäßen, im Sozialleben und beim Lernen. „Wenn man eine gewisse Selbstdisziplin hat, fleißig und pflichtbewusst ist, lernt man auch leichter.“ Und natürlich müssten Schüler im Alltag auch Regeln und Anweisungen befolgen. Doch auch da komme es auf die respektvolle Kommunikation in beide Richtungen an. „Ich höre bei Problemen immer erst einmal wertfrei die Sicht des Schülers an. Das unterscheidet die heutige Pädagogik von der vor 50 Jahren.“

Vielfalt und Teilhabe statt Treue und Gehorsam

Der größte Unterschied aber sei, dass Tugenden wie Treue und Gehorsam heute auf keinen Fall mehr Ziel der Erziehung seien. „Ich verlange natürlich nicht von einem Schüler, dass er mich zuerst durch die Tür gehen lässt, weil ich älter bin“, sagt Scheferhoff. „Wir erziehen unsere Schülerinnen und Schüler nicht zu autoritätshörigen Menschen, sondern zu selbstbewussten, demokratischen, teilhabenden jungen Erwachsenen.“ Entscheidend sei, dass sie lernten, für sich selbst und andere Verantwortung zu übernehmen. „Wir sind Schule der Vielfalt und wollen, dass jeder hier seinen individuellen Weg geht, ohne anderen zu schaden.“ Dazu gehöre auch, dass Schüler sich für sich selbst einsetzen, Dinge auch mal kritisch prüfen und im Zweifelsfall Widerstand leisten könnten. Viele agierten heute selbstbewusst und auf Augenhöhe. „Es ist gut, dass Kinder heute zu eigenständigem, kritischem Denken erzogen werden“, sagt auch Ulric Ritzer-Sachs. „Dann muss vielleicht mehr diskutiert werden – aber diesen Preis sollte eine Gesellschaft bezahlen.“


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