Streit der WocheSollen die Einschränkungen für Geimpfte gelockert werden?

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Impfung Symbolbild

Ein Mann erhält eine Impfung gegen das Coronavirus. (Symbolbild)

  • Jonah Lemm (24), Redakteur im Ressort Story/NRW, ist laut Impfrechner mindestens auf Platz 18.916.888 der Warteschlange und freut sich für alle 18.916.887 Bürgerinnen und Bürger, die vor ihm an der Reihe sind.
  • Claudia Lehnen (42), Ressortleiterin Story/NRW, freut sich auf eine allgemeine Aufhebung aller Beschränkungen. Sie hat für diesen Fall für sich und ihre Freunde seit knapp einem Jahr eine Flasche Champagner im Kühlschrank liegen.

Seit es einen Impfstoff gibt, mit dem die ersten Menschen in Deutschland vor dem Virus geschützt sind, ist die Diskussion um Lockerungen für Geimpfte in vollem Gang. Was spricht dafür? Und was dagegen? Zwei Meinungen.

Pro: Grundrechte allein auf Basis der Solidarität auszusetzen ist absurd

von Jonah Lemm

Grundrechte sind keine Privilegien. Sie stehen, so sagt es ja bereits der Name, uns allen zu, jedem Bürger, zu jeder Zeit. Egal, welches Geschlecht, welche Religion, welche sexuelle Orientierung, welches Alter jemand hat. Kurzum: Sie sind nicht an irgendetwas gekoppelt, sie sind einfach da und sie sind essenziell für unser Selbstverständnis als liberale Demokratie, garantieren sie doch – neben dem Schutz der eigenen Menschenwürde und -rechte – vor allem, dass jeder tun, lassen und sagen kann, was er möchte, von der Meinungsäußerung über die Bewegungs- und Versammlungsfreiheit bis hin zur Berufswahl.

Und jetzt kommt die berechtigte Einschränkung: Diese Freiheiten gelten natürlich nur so lange, bis die eigenen Handlungen womöglich jemand anderen schädigen oder in Gefahr bringen. Etwa durch die Verbreitung eines potenziell tödlichen Virus. Deswegen ist es völlig richtig, dass die Bundesregierung die Grundrechte der Bürger während einer Pandemie zu einem gewissen Grad einschränkt.

Und doch ist eben genau das die einzige Rechtfertigung dafür.

Wenn sich nun aber jemand durch eine Impfung nicht mehr mit dem Virus anstecken kann und – das ist ja nun noch nicht final geklärt und es wäre enorm wichtig, darüber alsbald Klarheit zu haben – auch niemanden mehr ansteckt, dann jedenfalls gibt es keine ausreichende Begründung mehr dafür, ihm etwa seine Reisefreiheit oder die Freiheit der Berufsausübung zu verwehren. Man kann an Geimpfte appellieren, dass sie sich aus Mitgefühl mit dem ungeimpften Rest der Gesellschaft doch bitte zurückhalten mögen, klar. Aber eine Grundrechtsaussetzung nur auf der Basis der reinen Solidarität ist absurd.

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Die ganze Debatte ist bigott. Erst wird gemeckert, die Wirtschaft, der Einzelhandel halte das ganze Gelockdowne nicht mehr aus. Dann gibt es einen Weg, wie Geschäfte, Restaurants, Kulturangebote zumindest sukzessiv wieder für Menschen zugänglich werden könnten. Das aber ist nun auch verkehrt? Lieber sollen Ladenbesitzer mit dem Geldverdienen warten, bis die Herdenimmunität da ist?

Alte und kranke Menschen, so las man in den vergangenen Monaten ja oft, trifft nicht nur das Virus sondern auch die Einsamkeit besonders hart. Sie, die als Erste geimpft werden, sollen aber trotzdem noch monatelang darauf verzichten, sich etwa mit Gleichaltrigen und ebenfalls Geimpften auch in größeren Gruppen zu treffen? Unsinn.

Vor Monaten klatschten noch alle von ihren Balkons aus Dankbarkeit für die, die man mittlerweile „systemrelevant“ nennt – aber dass die nun vor einem selbst das Vakzin bekommen, das soll unfair sein? Wer das Argument anführt, es sei falsch, dass die Impfreihenfolge staatlich vorgegeben wird, der soll erst einmal ernsthaft erklären, welches Vorgehen sinnvoller ist, als besonders gefährdete Menschen zuerst zu impfen.

Natürlich kann man die Verwaltung und die Regierungen für jede Panne in der Impfkette kritisieren. Dafür, dass es nicht schnell genug geht. Und natürlich ist es selbstverständlich, dass jeder so schnell wie möglich wieder zurück in die Normalität will. Aber Impfneid hilft wirklich niemandem. 

Contra: Grundrechte können nur für alle gelten – oder müssen für alle eingeschränkt werden

von Claudia Lehnen

Grundrechte gelten per se. Man kann und muss sie nicht erwerben. Sie gelten einfach voraussetzungslos für jedermann. Und wenn Grundrechte wie gerade durch einen weltweiten Katastrophenfall eingeschränkt und der Volksgesundheit untergeordnet werden, dann gilt weiterhin: Grundrechte sind nicht erwerbbar. Nicht für Einzelne. Auch nicht durch eine Impfung.

Der Gleichheitsanspruch, der Grundrechten immer innewohnt, verpflichtet uns dazu, die Aufhebung der Einschränkungen gleichzeitig für alle Bürgerinnen und Bürger zu ermöglichen. Eben zu dem Zeitpunkt, ab dem die Pandemie so weit unter Kontrolle gebracht worden ist, dass soziale Kontakte wieder risikofrei möglich sind. Niemand darf bevorzugt werden, weil er qua Alter, Beruf und Impfwilligkeit als einer der ersten den Schutz vor der tückischen Krankheit genießt. Niemand darf diskriminiert werden, weil er eine Impfung ablehnt oder schlicht noch lange nicht an der Reihe ist.

Eine Ungleichbehandlung hätte fatale Konsequenzen für unser Rechtsempfinden. Die Botschaft, dass Grundrechte für manche gelten, während sie gleichzeitig für andere eingeschränkt werden, könnte einer Diskriminierungswelle Tür und Tor öffnen: HIV-Positive? Lass ich besser nicht in mein Restaurant. Hepatitis-Erkrankte? Dürfen leider keine Langstreckenflüge buchen, könnte sich ja jemand anstecken. Nicht nachweislich unfruchtbare Frauen? Kriegen vorsichtshalber natürlich keinen Arbeitsvertrag mehr.

Nein, so geht das nicht. Grundrechte können nur für alle gelten. Oder müssen im Notfall eben für alle eingeschränkt werden.

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Die Pandemie fordert unsere Solidarität seit einem knappen Jahr in besonderer Weise. Und diese soziale Errungenschaft funktioniert doch bei allen Jammereien und Rückschlägen erstaunlich gut: Jugendliche verzichten auf Partys, Kinder aufs Fußballspielen, junge Erwachsene auf die Urlaubsreise und den Restaurantbesuch. Viele Eltern gehen bis an die Belastungsgrenze, um ihre Kinder neben dem Job zu Hause zu betreuen und ihnen beim Homeschooling beizustehen. Künstler, Wirte und Ladenbesitzer nehmen Einnahmeeinbußen in Kauf, die sie die Existenz kosten könnten. Alleinstehende verlassen wochenlang kaum das Haus und haben seit einem kappen Jahr auf den Trost einer Umarmung verzichtet.

Alles, um ältere Menschen und solche, die zu einer Risikogruppe gehören, vor einem vorzeitigen Ableben zu bewahren.

Und jetzt sollen wir auf den letzten Metern wieder in „Gruppe geimpft“ und „Gruppe ungeimpft“ zerfallen? Sollen es uns gefallen lassen, dass diejenigen, die frisch geimpft sind, nun wieder Partybilder posten oder vom Strandurlaub auf Ibiza schwärmen und so unsere Moral schwächen? Und damit die gesamtgesellschaftliche Leistung, eine Pandemie zurückzudrängen, gefährden?

Nein. Lassen Sie uns abwarten. Und seien Sie als Teil der älteren Bevölkerung, die als Erstes mit dem Impfen dran ist, solidarisch mit den Jungen, die monatelang verzichtet haben. Die Jungen waren es auch mit ihnen. Und dann können wir hoffentlich alle gemeinsam darauf anstoßen, dass dieser schwere Weg in absehbarer Zeit ein Ende hat – feuchtfröhlich und ganz ohne Rücksicht auf irgendwelche Hygieneregeln. 

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