Hoffnung in der Tumortherapie„Erzählt mir keinen Mist. Ich bin doch hier noch lange nicht fertig“

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André Schreiber lässt seinen Lungenkrebs mit einer neuartigen Tumortherapie in der Uniklinik Köln behandeln.

André Schreiber lässt seinen Lungenkrebs mit einer neuartigen Tumortherapie in der Uniklinik Köln behandeln. Seit einem Jahr lebt er quasi beschwerdefrei.

Wie eine Immuntherapie in Köln dem 37 Jahre alten Lungenkrebspatienten André Schreiber wieder Hoffnung auf das Leben macht.

André Schreiber ist gerade 34 Jahre alt geworden, als er seine Beerdigung plant. Friedhof Oberhausen Alstaden, ein Grab nahe dem seiner Mutter. Einäscherung. Urne mattschwarz. Zu Essen hätte er sich selbst Kartoffeln mit Spinat und Spiegelei gewünscht, aber da man sich an seiner Beerdigung um die eigene Verköstigung nicht kümmern muss, hinterlegt er für seine Gäste freie Speisen- und Getränkewahl. Soll jeder aussuchen, was er will. Genug Geld für ein ordentliches Gelage hat Schreiber beiseitegelegt. „Die sollen sich da gern richtig einen reinscheppern“, sagt er großzügig.

André Schreiber ist gerade 36 Jahre alt geworden, als er die Bereisung der Welt startet. Der Flieger mit ihm an Bord hebt in den kommenden zwölf Monaten nacheinander ab Richtung: Fuerteventura, Ägypten, Italien, Slowenien, Kuba, Kanada, Griechenland (zweimal), nochmal Fuerteventura, Dominikanische Republik. Schreiber hat sich glücklicherweise, wie er selbst sagt, irgendwann mal eine Berufsunfähigkeitsversicherung aufschwatzen lassen. Dazu bekommt er eine Erwerbsminderungsrente. Außerdem arbeitet seine Schwester als Stewardess, das macht die Sache ein wenig einfacher.

Beschwerden hat er kaum. Bei der Reiseplanung muss er lediglich beachten, die im zweiwöchigen Rhythmus anstehenden Termine zur Infusion an der Uniklinik Köln einhalten zu können. „Mein Leben lang war ich nur in Österreich oder Holland im Urlaub, jetzt will ich fliegen, alles sehen, mit Delfinen schwimmen, das ganze Programm. Und ich lass’ mir da von niemandem reinreden. Ich habe Lunte gerochen.“

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„Erzählt mir doch keinen Mist. Ich bin doch hier noch lange nicht fertig“

André Schreiber ist Groß- und Außenhandelskaufmann in Mülheim an der Ruhr. Er hat eine Schwäche für Reklamefiguren. In seinem Kinderzimmer stand mal ein mannhohes Nokia, er sammelt M&M-Figuren. Er liebt „Dance Music“, bei Festivals wie dem „Parookaville“ in Weeze und „Tomorrowland“ in Belgien ist er Stammgast. Als er sich im Sommer 2021 ständig mit Atemwegserkrankungen rumschleppt und plötzlich starke Schmerzen in der Brust auftauchen, tippen die Ärzte zunächst auf eine Lungenentzündung. Aber irgendetwas anderes scheint auch nicht zu stimmen. Krankenhaus Oberhausen, Biopsie, CT, MRT. Das Ergebnis: Kleinzelliger Lungenkrebs. Als der Arzt die schlechte Nachricht überbringt, reagiert Schreiber pragmatisch. Haarausfall bei der Chemo, so sagt er dem behandelnden Arzt, bereite ihm jedenfalls kein Kopfzerbrechen. „Ich habe eh kaum noch welche.“ Mit dem Tod auseinandersetzen will sich Schreiber zunächst nicht. „Erzählt mir doch keinen Mist. Ich bin doch hier noch lange nicht fertig.“

Doch die 30-wöchige Chemo will nicht anschlagen. Metastasen im Rücken, in der Leber, Schweißausbrüche beim Treppensteigen, Nervenschäden im Rückenmarkbereich. Schreibers Leben scheint zu schwinden. „Mit 35 Jahren. Das hat mich total runtergerissen.“

Dann die Revolution, wie Schreiber sagt. In das Jahr zwischen Beerdigungsvorbereitungen und erster Flugreise drängeln sich die glücklichen Auswirkungen des medizinischen Fortschritts in sein Leben. Als würde jemand im dunklen Tunnel das Licht wieder anknipsen. „Das Leuchten“, sagt Schreiber. „Bispezifische Antikörper“, sagt Professor Jürgen Wolf, Ärztlicher Leiter des Centrums für Integrierte Onkologie (CIO) an der Uniklinik Köln. In der Krebsimmuntherapie gelten sie als Hoffnungsschimmer für Patienten, welche beispielsweise nach einer bislang üblichen Chemotherapie schnell einen Rückfall erleiden. Zur Anwendung kommen sie beim Lungenkrebs bislang nur in Studien.

Dr. Jürgen Wolf, Ärztlicher Leiter des Centrums für Integrierte Onkologie (CIO) an der Uniklinik Köln.

Professor Jürgen Wolf sagt: „40 Prozent aller Patienten scheinen den Auswertungen zufolge auf das Medikament anzusprechen.“

Wolfs Vision: Im nationalen Netzwerk Genomische Medizin (nNGM) eine umfassende und hochwertige molekulare Diagnostik und Empfehlung einer entsprechenden zielgerichteten Therapie für alle Patienten mit Lungenkrebs unabhängig von deren Wohnort oder der Frage der Kostenerstattung anzubieten. Im von Köln aus koordinierten und von der Deutschen Krebshilfe und den gesetzlichen Krankenassen finanzierten nNGM werden also in aktuell 28 spezialisierten Zentren Tumorgewebe von Lungenkrebspatienten aus ganz Deutschland auf molekulare Veränderungen getestet und Therapieempfehlungen erarbeitet. Die Behandlung selbst kann dann für die Mehrzahl der Patienten wohnortnah in Praxen und Krankenhäusern stattfinden.

Wolf und seine Kollegen sind aber auch Anlaufstelle für Verzweifelte auf der Suche nach einer Zweitmeinung. Schlechter als die Erstmeinung könne diese kaum ausfallen, argumentieren auch Schreibers Freunde. Sie drängen. Er denkt sich „Warum nicht?“ und landet in Wolfs Videosprechstunde.

Das Ergebnis: Schreiber bekommt einen Platz in einer neuen Studie. Ein Strohhalm. Eine ganz neue Therapie gegen kleinzelligen Lungenkrebs, ein unerforschtes Medikament, ein Risiko. Aber Schreiber greift zu und hält sich fest. Er gilt zu diesem Zeitpunkt als austherapiert. Er sagt: „Ich mach’ alles.“ Und so wird das, was wie ein Ende klingt, in seinem Fall zur Chance auf einen Neuanfang.

Nach 40 Jahren Stillstand der Durchbruch in der Forschung

Kleinzelliger Lungenkrebs. Nur 15 Prozent aller Lungenkrebspatienten erhalten diese besonders aggressive Diagnose. Chemotherapie ist lange die einzige Wahl zur Gegenwehr. Aber die Ergebnisse sind ernüchternd. Der Krebs lässt sich nicht lange vertreiben. Er kommt nach den belastenden Infusionen schnell zurück. Mittlere Überlebensdauer: acht bis zehn Monate. Das Tückische, so Wolf: Die Tumorzellen, die auch der gesunde Körper in sich trägt, die aber die Killerzellen des Immunsystems zumeist zuverlässig entdecken und auffressen, verstecken sich bei dieser Krankheit geschickt. Und wachsen im Verborgenen zu tödlicher Größe. „40 Jahre“, sagt Jürgen Wolf, „hat sich in der Forschung bei diesem Krankheitsbild quasi nichts getan. Es wurde viel ausprobiert. Aber funktioniert hat eigentlich nichts.“

Dann der Durchbruch: Eine Immuntherapie ermöglicht es den Killerzellen, ihre Feinde wieder ausfindig zu machen. Der Plan: „Wir infundieren das Medikament in den Körper. Dort schnappt es sich die Killerzellen und lenkt sie direkt zu den Tumorzellen“, sagt Wolf. Eine Taschenlampe für die Zellendetektive, in dessen Lichtstrahl die feindlichen Zellen entdeckt und hernach abgeführt werden können. Erste Ergebnisse sind vielversprechend. „40 Prozent aller Patienten scheinen den Auswertungen zufolge auf das Medikament anzusprechen.“

André Schreiber lässt seinen Lungenkrebs mit einer neuartigen Tumortherapie in der Uniklinik Köln behandeln.
Im Bild auch der behandelnde Arzt Dr. Felix John.

André Schreiber mit seinem behandelnden Arzt Felix John in der Uniklinik. Schreiber erzählt von seinen Gedanken zu Beginn der Behandlung: „Wat is, wenn da nix mehr kommt?“

Eine Therapie nicht ohne Nebenwirkungen. „Das Immunsystem hat ein unfassbares Potenzial. Mit diesem Medikament gelingt es uns, es wieder zu aktivieren. Das Problem: Einmal in Gang gesetzt, lässt sich das Immunsystem sehr schwer steuern“, sagt Wolf. Im Eifer könne es deutlich über das Ziel hinausschießen und beispielsweise auch gesunde Organe angreifen oder Blutdruckabfall bis hin zu einem tödlichen Schock auslösen. In Schreibers Fall bedeutet das nach der ersten Acht-Stunden-Infusion: hohes Fieber. Zwei Wochen lang. „Das geht einem richtig auf die Nerven. Das geht an die Substanz. Vor allem, wenn dir keiner sagen kann, was als nächstes passiert.“ Denn einer Studienteilnahme ist verständlicherweise immanent: Erfahrungswerte sind gering. Schreiber liegt. Schreiber fiebert. Schreiber dämmert. Und denkt zwischendurch: „Wat is, wenn da nix mehr kommt?“

„Mein Gedanke war: Das Leben ist wieder da“

Doch dann kommt doch etwas. Und zwar das Leuchten, wie Schreiber es nennt. Zwei Wochen nach Therapiebeginn offenbart eine Untersuchung: Seine Krebszellen machen sich in Scharen vom Acker. Anzahl der Feinde halbiert. Schreiber, weißes Hemd, schwarze Basecap, um den Hals ein goldenes Kettchen, lächelt breit, als hätte man ihm gerade ein besonders großes Geschenk überreicht. „Mein Gedanke war: Das Leben ist wieder da.“

Dass das Medikament, das bislang nur Studienteilnehmern verabreicht werden kann, auch in der Regelversorgung zugelassen werden kann, hält Wolf nur für eine Frage der Zeit. „Das, was jetzt passiert, erleben wir in dieser Ausprägung nur alle paar Jahre.“ 2025, so seine Prognose, könnte es in den USA zumindest Patienten, die nach einer Chemotherapie rückfällig geworden sind, verschrieben werden. Die Regeln zur Zulassung seien dort weniger streng, Studienergebnisse zur Sicherheit könnten dort auch nachgeliefert werden, wenn das Medikament schon auf dem Markt ist. „In Deutschland überwiege hier die Angst davor, durch eine schnelle Zulassung vielleicht Langzeittoxizitäten zu übersehen. Wolf hält das durchaus für bedenkenswert. Dennoch wünscht er sich für die Patienten oft mehr Tempo. „In deren Fall ist die größte und bedrohlichste Toxizität ja der Krebs.“

André Schreiber will sich mit all dem so wenig wie möglich beschäftigen. Drei Reisen, einmal Mexiko, einmal Fuerteventura, einmal Mallorca, sind für die kommenden Monate schon gebucht. Spanisch lernen steht auf dem Programm. Außerdem eine Haartransplantation in der Türkei. Festivals. Sein Neffe. Geschwister. Großeltern. Gerne eine feste Liebesbeziehung. Seinen noch vorhandenen Krebszellen gewährt er nur noch einen Auftritt in der Nebenrolle. Ganz vertreiben lassen sich die finsteren Biester bislang noch nicht. „Ich muss da durch. Wenn der Tag heute gekommen ist, dann ist der Tag heute gekommen.“ Erstmal widmet sich Schreiber dem Leuchten.

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