Aus dem Hörsaal in die Stricherszene

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Silvia Mausold

Silvia Mausold

An einem großen Esstisch sitzen ein paar junge Männer und spielen Karten, ein paar andere surfen im Internet, und über ihnen ruht sich ein erschöpfter blonder Junge auf einem Hochbett aus. Die Sonne scheint auf Ausflugs- und Partyfotos an der Wand, im Hintergrund dringen Musikvideos und Klingeltonwerbung aus Fernsehlautsprechern. Auf den ersten Blick wirkt das geräumige Zimmer wie ein ganz normaler Jugendtreff. Eins verbindet aber alle hier: Sie gehen anschaffen, verkaufen ihre Körper an ältere Männer.

Nur eine Frau ist im Raum: Silvia Mausolf. Die 27-Jährige studiert im fünften Semester Soziale Arbeit. Im letzten halben Jahr hat sie bei „Looks. e.V.“ ein Praktikum gemacht. Nun arbeitet sie noch ehrenamtlich für den Verein, der sich um männliche Prostituierte kümmert. In den gemütlich eingerichteten Räumen am Heumarkt können sie sich duschen, ihre Wäsche waschen, fernsehen und ins Internet gehen. „Außerdem bieten wir ihnen HIV-Prävention, medizinische und psychologische Beratung und organisieren Ausflüge“, erzählt die Studentin, „im September waren wir zum Beispiel zusammen im Phantasialand.“

Das vierte Semester ist für alle Studenten im Bachelor-Studiengang Soziale Arbeit an der Fachhochschule eine Praxisphase. „Ich wollte unbedingt zu »Looks«, weil hier Streetworking zum Arbeitsalltag gehört und ich das unbedingt einmal machen wollte.“ Die Mitarbeiter gehen dabei in Zweierteams durch die Kölner Stricherszene, die sich vor allem in ein paar Kneipen in der Altstadt konzentriert. Sie verteilen Kondome, Gleitgel und Info-Broschüren. „Dabei sieht man ständig neue Gesichter, weil viele nach einigen Monaten die Stadt wechseln, um neue Kunden zu gewinnen.“ Die Kunden sind fast alle Männer über 50, die Stricher selten älter als 26. An manchen Tagen werden die Streetworker von einem Arzt begleitet, der die Stricher anonym behandelt.

Nicht alle jungen Männer, die anschaffen gehen, sind selber schwul. In ihrem Praxissemester hat Silvia Mausolf viel über die Gründe für ein Leben als Stricher erfahren: Etwa die Hälfte von ihnen komme aus Osteuropa, erzählt sie. Sie reisten nach Deutschland, um Geld zu verdienen. Hier merkten sie dann, dass das nicht so leicht ist wie gedacht. „Dann beginnen sie, anschaffen zu gehen, und schicken ihren Familien die Einnahmen. Die wissen aber natürlich nie, wie das hier verdient wurde“, erklärt die 27-Jährige. „Andere brauchen das Geld für Drogen. Es gab auch schon mal Fälle, in denen sich Studenten durch Prostitution ihren dekadenten Lebensstil finanziert haben, aber das sind absolute Ausnahmen.“

Auf ihre Zeit bei „Looks“ fühlte sie sich durch ihr Studium gut vorbereitet. „Aber in der Praxis ist das natürlich nochmal etwas völlig anderes.“ Während des Praxissemesters trafen sich die Kommilitonen deswegen alle zwei Wochen mit ihren Dozenten, um von ihren Erlebnissen zu erzählen. Wenn nötig, wurden sie psychologisch beraten und geschult - beispielsweise in den Bereichen Gesprächsführung oder Rechtsfragen bei Drogensüchtigen.

Obwohl Silvia Mausolf keine Berührungsängste hatte, war das Praktikum eine neue Erfahrung: „Am Anfang war es schon komisch, wenn die hier am Tisch ganz offen über schwule Sexpraktiken und Erlebnisse mit Freiern gesprochen haben, aber ich hab mich recht schnell daran gewöhnt.“ Emotional war die Arbeit allerdings nicht immer einfach: „Einige Schicksale sind mir wirklich nahe gegangen. Aber das darf man nicht zu dicht an sich herankommen lassen, sonst verliert man schnell selbst den Boden unter den Füßen.“ So richtig unangenehm war Silvia Mausolf nur eine Situation bei „Looks“: „Ein Junge wurde aufdringlich und hat mich immer wieder angemacht, den hab ich mehrmals ermahnt und schließlich rausgeschmissen“, erzählt die Studentin.

Das Ziel von „Looks“ ist es nicht, die Stricher unbedingt aus ihrem Beruf zu holen. „Hier geht es nicht darum, den Finger zu heben und zu sagen: »Was ihr macht, ist moralisch falsch!»“, sagt die 27-Jährige, „sondern darum, ihre Arbeitsbedingungen zu verbessern und den Jungs einen Ruhepol zur Szene zu bieten.“ Die „Jungs“ - wie sie sich selber nennen - werden Silvia Mausolf noch länger beschäftigen: Über zwei von ihnen schreibt sie gerade ihre Bachelor-Abschlussarbeit.

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