Mevlüde GençNach Brandanschlag von Solingen Friedensbotschafterin wider Willen

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Mevlüde Genç

Alles hätte Mevlüde Genç dafür gegeben, nicht als Friedensbotschafterin und Symbol für Menschlichkeit in die Geschichte der Bundesrepublik einzugehen. Sie war eine zurückhaltende Frau, die in Ruhe mit ihrer Familie in Solingen leben wollte. Damit war es mit der schrecklichen, für das Land beschämenden Nacht vom 29. Mai 1993 vorbei.

Fünf Familienmitglieder bei Brandanschlag ermordet

Bei einem Brandanschlag von Rechtsextremen auf ihr Haus in Solingen verlor Genç ihre Töchter Hatice und Gürsün, die Enkelinnen Hülya und Saime und ihre Nichte Gülistan. Acht weitere Mitglieder der Familie Genç wurden zum Teil lebensgefährlich verletzt – Sohn Bekir retteten erst 24 Operationen das Leben. Die Traumata sind geblieben.

„Ich bin tot und lebe noch“, sagte Mevlüde Genç in einem „Zeit“-Interview drei Jahre nach dem Anschlag. Dem „Kölner Stadt-Anzeiger“ hatte sie bei einem Besuch in einem von hohen Mauern und Videokameras gesicherten Haus in Solingen vor fünf Jahren gesagt, was sie in bewundernswerter Weise 29 Jahre lang wie ein Mantra wiederholte: „Ich spüre keinen Hass. Es waren Einzeltäter, nicht die Deutschen.“ Und: „Ich bete dafür, dass wir alle gute Menschen sind, verzeihen können und tolerant sind.“

Hausbesuch bei der Familie

Bei dem Gespräch hatte sie immer mal wieder auf die Überwachungskamera geschaut, einen Monitor im Wohnzimmer, auf dem 24 Stunden am Tag zu sehen war, was vor der Haustür vor sich ging.

Auf die Frage, warum sie in Solingen geblieben seien, hatte Mevlüde Genç gesagt: „Weil Solingen unsere Heimat ist. Ich lebe länger in Deutschland als in der Türkei.“

In der Nacht zum Sonntag ist Mevlüde Genç in ihrem Haus in Solingen gestorben, an den Folgen einer Lungenembolie, wie diese Zeitung aus dem Freundeskreis der Familie erfuhr. Sie wurde 79 Jahre alt. Am Dienstag wird auf der Wernerstraße – am Ort des Brandanschlags – eine Gedenkfeier stattfinden. Nach der Überführung wird Genç am Mittwoch in ihrem Heimatdorf Mercimek in der Türkei beigesetzt.

Bewundernswerte Reaktion auf schlimmstes Leid

Wie schwer (bis unmöglich) es ist, angesichts eines brutalen Überfalls, bei dem die liebsten Menschen ermordet werden, nicht selbst zu hassen, ist Tag für Tag in der Welt zu sehen und zu hören – aktuell auch an der Rhetorik von traumatisierten Menschen angesichts des russischen Mordens in der Ukraine. Umso größer erscheint eine Geste von Toleranz und Vergebung wie jene, die Mevlüde Genc zu jedem Anlass wiederholte.

„In meiner langen Berufserfahrung habe ich selten eine so resiliente Person erlebt, die angesichts ihrer Verluste und schwersten Leids so bewundernswert mit ihren Traumata umgegangen ist“, sagt Ali Kemal Gün, der die Familie seit dem Anschlag begleitet und Sohn Bekir zehn Jahre lang psychotherapeutisch behandelt hat. „Ihr gebührt größter Respekt dafür, dass sie sich Zeit ihres Lebens für Vielfalt und Toleranz starkgemacht hat.“

Von der Politik wurde Genç auch instrumentalisiert

Als Ikone der Menschlichkeit wurde die Frau, die nicht fließend Deutsch lernte und lieber zurückgezogen lebte, auch zur beliebten, mitunter instrumentalisierten Symbolfigur für die deutsche und türkische Politik. Alle zeigten sich zu Gedenkfeiern, Geburtstagen, Preisverleihungen gern mit Mevlüde Genç – deutsche Kanzler, Ministerpräsidenten, Bundespräsidenten und Abgeordnete genauso wie türkische.

Wenn in der deutschen Presse Kritik an der türkischen Politik und dessen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan laut wurde, antwortete die regimenahe türkische Presse mitunter, indem sie Mevlüde Genç zitierte und an die rassistisch motivierten Anschläge in Deutschland erinnerte.

Armin Laschet (CDU) nannte Genç „die beeindruckendste Frau, die ich jemals kennengelernt habe“. Die Landesregierung Nordrhein-Westfalen stiftete 2018 die Mevlüde-Genç-Medaille. Der Preis wird an Menschen oder Gruppen verliehen, die sich für Verständigung und Toleranz einsetzen. Der aktuelle NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU) sagte, das Land verliere „ein großes Vorbild der Versöhnung“. Sie habe es verstanden, „den unermesslichen Schmerz, der ihr zugefügt wurde, umzuwandeln in Kraft, um sich für andere Menschen einzusetzen“.

Unfreiwillig zum politischen Menschen gemacht

Die Gençs hatten eine Fotowand mit Porträts von deutschen und türkischen Würdenträgern im Wohnzimmer hängen. Johannes Rau und Armin Laschet, Erdogan und der frühere Präsident Abdullah Gül waren dort friedlich vereint. Mevlüde Genç sagte von sich, kein politischer Mensch zu sein. Bedingt durch einen Mord, der ihre halbe Familie auslöschte, wurde sie unfreiwillig zu einem gemacht.

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