Neues Schulfach Wirtschaft/Politik„Es reicht nicht, nur die Ökonomie zu beleuchten"

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Zurstrassen

Bettina Zurstrassen

Frau Professor Zurstrassen, müssen die Studierenden in diesem Sommersemester schon damit rechnen, auf ein neues Schulfach, nämlich Wirtschaft/Politik, vorbereitet zu werden? Ja. Die Studierenden werden bereits auf die Anforderungen des Schulfaches „Wirtschaft-Politik“ vorbereitet. Dazu bedarf es keiner Änderungen der Lehramtszugangsverordnung. Die Hochschulen werden ihrer Verantwortung gerecht. Seit Jahrzehnten sind ökonomische Inhalte in den Studienordnungen für den Lehramtsstudiengang Sozialwissenschaften verankert. Manche Hochschulen haben in den vergangenen Jahren den Anteil ökonomischer Studieninhalte stark erhöht. Seit Jahrzehnten unterrichten Sowi-Lehrkräfte kompetent Unterrichtsfächer wie Politik-Wirtschaft, Arbeitslehre, Sozialwissenschaften - neuerdings auch mit einer ökonomischen Schwerpunktsetzung. Der Entwurf der Landesregierung für die Lehramtszugangsverordnung hat noch keine Auswirkungen auf die Studiengänge. Die meisten Universitäten stellen die Studiengänge derzeit noch nicht um, weil noch offen ist, wie die Lehramtszugangsverordnung aussieht, die schlussendlich erlassen wird.

Was kommt auf die Universitäten zu? Der Entwurf der Landesregierung sieht einen deutlichen Ausbau der ökonomischen Studienanteile im Lehramt für das Unterrichtsfach Sozialwissenschaften vor. Die Universitäten haben sich, von wenigen Ausnahmen abgesehen, kritisch zu den Plänen der Landesregierung geäußert, weil sie auf dem Standpunkt stehen, dass ihre derzeitigen Studienmodelle gut funktionieren. Diese wurden alle unter Beteiligung des Schulministeriums NRW akkreditiert. Neben inhaltlichen Erwägungen – viele Universitäten begrüßen die Interdisziplinarität des Studien- und des Schulfaches Sozialwissenschaften – befürchtet man an manchen Hochschulen auch Verteilungskonflikte zwischen den Wissenschaftsdisziplinen/Fakultäten. Die sozialwissenschaftliche Bildung ist ein sehr konfliktträchtiges Feld. An den Hochschulen ist es weitgehend gelungen, die Konfliktlage etwas zu beruhigen. Diese droht nun wieder aufzubrechen.

Gibt es weitere Befürchtungen? Ja, dass es zu einer Salamitaktik kommt hin zu einer immer größeren Ausweitung der ökonomischen Studien- und schulischen Bildungsinhalte. Wir befürchten, dass am Ende des Prozesses das Studien- und das Unterrichtsfach „Wirtschaft“ steht mit kleinen, feigenblattartigen Anteilen politischer und gesellschaftlicher Bildung. Ein mahnendes Beispiel ist der berufsbildende Bereich. Dort wurden politische Bildungsinhalte in den vergangenen Jahren immer weiter zugunsten ökonomischer Inhalte verdrängt.

Was heißt in diesem Zusammenhang eigentlich „ökonomische Bildung“? Geht es darum, dass Schülerinnen und Schülern lernen, wie sie später ihre Steuererklärung ausfüllen? Oder geht es um Wirtschaftssysteme? Die Erwartungshaltungen sind sehr unterschiedlich. Es gibt diejenigen, die auch auf eine Auseinandersetzung mit Wirtschaftsmodellen hoffen. Das ist im neuen Lehrplan Wirtschaft-Politik für das Gymnasium jedoch nicht vorgesehen. Dort wird die Auseinandersetzung mit Wirtschaftsmodellen auf den Vergleich von Marktwirtschaft und Sozialer Marktwirtschaft begrenzt. Der mangelhafte paradigmatische Pluralismus im Lehrplan wurde bereits in der Verbändeanhörung mehrfach kritisiert. Viele verbinden mit der ökonomischen Bildung auch die Hoffnung, dass Kinder und Jugendliche lernen, Mobilfunk- oder Mietverträge lesen zu können. Das müsste eigentlich mehr juristische anstatt ökonomische Bildung zur Folge haben.

Gibt es das nicht schon? Ja, das wird zumindest in Teilen bereits unterrichtet, Vertragsrecht zum Beispiel. Die grundlegende Problematik ist aber, warum müssen Kinder und Jugendliche (Bürger und Bürgerinnen insgesamt) hinsichtlich des Vertragsrechts juristisch aufrüsten? Könnte man nicht Mobilfunkanbieter verpflichten, faire, gut lesbare Verträge aufzustellen? Hier sollen einseitig die Verbraucher und Verbraucherinnen in die Pflicht genommen werden.

NRW hat also kein Defizit, wenn es um die Vermittlung solcher Fragen an den Schulen geht?

Insgesamt muss betont werden, dass ökonomische Bildungsanteile an den Schulen in Nordrhein-Westfalen gut verankert sind. An Gesamtschulen betrug der Anteil ökonomischer Inhalte in den sozialwissenschaftlichen Lehrplänen bereits vor Einführung des Schulfaches Wirtschaft-Politik 63 Prozent, am Gymnasium 48 Prozent. Des Weiteren weisen auch Unterrichtsfächer wie Geografie, auch Kunst oder Geschichte teilweise einen hohen Anteil ökonomisch geprägter Inhalte auf. Das Unterrichtsfach Geschichte hat sogar seit dem Schuljahr2019/20 eine zusätzliche Unterrichtsstunde erhalten, die für ökonomisch geprägte Inhalte (z. B. Industrialisierung) verwendet werden muss. In der Logik des nordrhein-westfälischen Schulministeriums müsste man das Studien- und Unterrichtsfach in „Geschichte-Wirtschaft“ oder „Wirtschaft-Geschichte“ umbenennen. Davon ist aber keine Rede.

Wo genau setzt Ihre Kritik an? Sie sagten, dass etwas gut Eingespieltes aus dem Gleichgewicht gebracht wird – das kann aber doch nicht alles sein. Sie beklagen vielmehr die Einschränkung politischer Bildung zugunsten der Ökonomie. In der Tat ist es so, dass das Fach Sozialwissenschaften ein Erfolgsmodell nordrhein-westfälischer Bildungspolitik ist. Es hat einen Modellcharakter, auch in anderen europäischen Staaten. Das alleine ist aber noch keine Begründung für den Erhalt des Studien- und Unterrichtsfaches „Sozialwissenschaften“. Wir befürchten, dass die disziplinär integrativen Perspektiven auf gesellschaftliche Entwicklungen und Probleme beschnitten werden. Die Soziologie soll zum Beispiel keine gleichberechtigte Teildisziplin mehr sein. Wir stehen vor grundlegenden gesellschaftlichen Herausforderungen, z. B. die Digitalisierung, den Klimawandel, das Erstarken des Rechtsextremismus, die Zunahme sozialer Ungleichheit, Migration. An Schulen reicht es nicht, nur die ökonomische Perspektive zu beleuchten. Es bedarf auch einer soziologischen Auseinandersetzung, zum Beispiel welche Auswirkungen diese Umbrüche für den gesellschaftlichen Zusammenhalt für den Einzelnen haben.

Es geht Ihnen also um variable Herangehensweisen? Vor allem sollen Kinder und Jugendliche die Möglichkeit erhalten, mit unterschiedlichen disziplinären, auch theoretischen Perspektiven gesellschaftliche Entwicklungen, Probleme und Herausforderungen analysieren und deuten zu lernen. Anhand der Soziologie lernen Kinder und Jugendliche, Gesellschaft als etwas zu begreifen, das nicht gegeben ist, sondern politisch und gesellschaftlich gestaltet wurde, also veränderbar ist, auch wenn solche Prozesse Jahre und Jahrzehnte andauern, oft auch mit Frustration, Rückschlägen und Kompromissen verbunden sind. Das Frauenwahlrecht beispielsweise musste erst erkämpft werden. Es gab Menschen, die eine Idee von einer anderen, gerechteren Gesellschaft hatten und die sich hierfür engagiert haben. Gesellschaftliche Veränderungen können politisch gestaltet, zumindest ihre negativen Folgen abgemildert werden. Das kann aber nur erfolgen, wenn Menschen in der Lage sind, Ideen zu entwickelt, wohin die Reise gehen soll und Wege erschließen können, wie sie ihre Ideen und Interessen in die gesellschaftliche Debatte einbringen und durchsetzen können.

Die sozialwissenschaftliche Bildung mit ihrem Dreiklang aus Politik, Wirtschaft und Gesellschaft sowie ihrem breiten Methodenrepertoire (z. B. Szenario-Technik, Zukunftswerkstatt, Fallanalysen, Battle of Theories) möchte Kindern und Jugendlichen diese Perspektiven weiterhin eröffnen und sie zur gesellschaftlichen Gestaltung befähigen. Das erfordert Lehrkräfte, die in allen drei disziplinären Teilbereichen grundlegend qualifiziert werden. Der Entwurf der Lehramtszugangsverordnung führt in dieser Hinsicht zu einer De-Professionalisierung der Sowi-Lehrkräfte.

Wird die Diskussion um das neue Fach von politischem Lagerdenken bestimmt? Konservative und Liberale sind dafür, die Linke ist dagegen? Das Schulministerium hat durch den Entwurf für die Lehramtszugangsverordnung und durch die Stellungnahmen des Staatssekretärs dazu beigetragen, die Studien- und Schulfachdebatte so zu politisieren, dass es derzeit die Lagerbildung gibt. Die FDP fordert die Fokussierung auf ökonomische Bildung, die CDU übt sich in Koalitionstreue, SPD und Bündnis 90/Die Grünen, auch die Linke, sprechen sich gegen eine weitere Ausweitung ökonomischer Bildung aus. Die Gesamtlage ist aber differenzierter, denn auch in der CDU gibt es Kritik an den Plänen des NRW-Schulministeriums und auch aus den Reihen der FDP haben wir kritisch-nachdenkliche Stimmen gehört, wenn auch nicht öffentlich. Dennoch, bei einer Abstimmung dürfte es diese Lagebildung geben.

Gefordert wird der weitere Ausbau der ökonomischen Bildung vor allem von Industrie- und Arbeitgeberverbänden sowie von unternehmensnahen Stiftungen. Es geht um die Deutungsmacht an den Schulen. Die Kritik der Zivilgesellschaft an den Plänen der Landesregierung ist allerdings überparteiisch. Sowohl die GEW NRW als auch der Philologenverband NRW haben sich beispielsweise gegen die Pläne der Landesregierung ausgesprochen. Auch die Landeselternschaft der Gymnasien NRW, die Landeselternkonferenz NRW, die Landesschüler*innenvertretung NRW, Studierendenverbände und Fachverbände kritisieren das Vorhaben.

Es gibt im Übrigen viele Unternehmer und Unternehmerinnen, die die Online-Petition „SowiBleibt“ unterzeichnet haben. Angesichts der gesellschaftlichen Problemlagen und Herausforderungen, mit denen wir konfrontiert sind, braucht es eher mehr politisch-gesellschaftliche Bildung. Wir alle müssen uns mit der Frage auseinandersetzen, in welcher Gesellschaft wir leben wollen und, welche Verantwortung wir für zukünftige Generationen haben.

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Was sagen Sie den Studierenden, die Soziologie oder politische Wissenschaft studieren wollen mit dem Ziel, dies an den Schulen zu unterrichten – müssen sie sich auf etwas völlig anderes einstellen? Eines haben wir schon erreicht, nämlich dass die Landesregierung ihre Pläne zurückgenommen hat, den Lehrkräften, Studierenden sowie Referendarinnen und Referendaren die Lehrbefähigung abzuerkennen. Juristisch war das ohnehin problematisch. Dass es überhaupt in Erwägung gezogen wurde, finde ich skandalös, unverantwortlich und unfair vor allem den jungen Menschen gegenüber, die sich in der Ausbildung befinden. Diejenigen, die planen Sozialwissenschaften auf Lehramt zu studieren, kann ich nur ermutigen. Auf sie wartet eine spannende berufliche Aufgabe.

Das NRW-Schulministerium wird weitere Zugeständnisse machen müssen, wenn es eine nachhaltige Bildungspolitik verantworten möchte. Bündnis 90/Die Grünen und die SPD haben bereits angekündigt, dass sie die Pläne der Landesregierung nicht mittragen und im Falle einer Regierungsbeteiligung nach der nächsten Landtagswahl, diese wieder aufheben werden. Keiner hat etwas gegen ökonomische Bildung, aber in gleicher Weise bedarf es auch politischer und gesellschaftlicher Bildung sowie der Fähigkeit zu interdisziplinären Perspektiven. Das leistet das Studien- und Unterrichtsfach Sozialwissenschaften.

Bettina Zurstrassen lehrt Soziologie an der Universität Bielefeld. Sie ist Vorsitzende der Deutschen Vereinigung für Politische Bildung in Nordrhein-Westfalen.

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