Ein Geologe auf SelbstfindungJürgen Moses reist mittellos durch Deutschland

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Will noch einiges von Deutschland sehen: Jürgen Moses.

Will noch einiges von Deutschland sehen: Jürgen Moses.

Euskirchen – Er hält ein Blatt Papier in einer Klarsichthülle hoch, auf dem steht: „Bitte um eine Spende für meine Wanderung durch Deutschland.“ Ansonsten trägt Jürgen Moses nur einen kleinen Rucksack bei sich und wetterfeste Kleidung am Körper. Eines Tages ist er einfach in der Euskirchener Fußgängerzone aufgetaucht.

„Es hat lange gedauert, bis ich mich getraut habe, zu betteln. Viele würden das nicht verstehen. Aber seinen Stolz runterzuschlucken hat auch etwas Befreiendes“, erzählt er. Moses ist promovierter Geologe. Jetzt lebt er auf der Straße, genauer: in einem Zelt. Freiwillig. Und das schon seit drei Jahren. „Ich habe früher als Ingenieur im Brunnenbau gearbeitet und viel Geld verdient. Aber während meiner Selbstständigkeit gab es immer mal wieder Flauten. Die Bezahlung war zwar gut, aber kam auch unregelmäßig rein. Als es wieder einmal so weit war, dachte ich mir: Jetzt machst du’s. Du lässt alles hinter dir und reist durch Deutschland. Ohne Auto, ohne Geld“, sagt der 67-Jährige. Seine Wohnung habe er zunächst als letzten Anker behalten, schließlich aber aufgegeben.

Hauptsächlich zu Fuß

Dass er hauptsächlich zu Fuß unterwegs ist, ist dem Geologen besonders wichtig: „Das Wandern liegt unserer Familie einfach im Blut. Schon während ich noch als Ingenieur gearbeitet habe, war ich viel in Afrika, dort bin ich den Niger runtergereist.“ Das sei aber nicht der einzige Grund. Zu Fuß komme man mit den Menschen besser in Kontakt, sagt er. Zudem habe Wandern eine therapeutische Wirkung auf ihn. Und so konnte Moses auf seiner Reise zu seiner Berufung zurückfinden. „Ich habe eigentlich gar keine Luxusartikel mehr bis auf ein paar Geologiebücher. Die schleppe ich mit. Das ist wichtig für mich, weil ich auf meiner Reise die verschiedenen Mineralien bestimmen will, die mir unterkommen“, sagt er. Aus dem Grund reist er auch gern an Flüssen entlang. „Die Sedimente an fließenden Gewässern sind super. Ich habe mich vor allem am Anfang meiner Wanderung daran orientiert“, erklärt Moses. Losgezogen sei er in Memmingen. Dann ging es zum Bodensee. Und von dort aus den Rhein hinauf bis Rotterdam, an der Mosel entlang, dann an der Nahe, durch den Schwarzwald und den Main hoch.

Seine Leidenschaft sei auch der Grund, warum er in Euskirchen gestrandet ist. „Hier in der Gegend gibt es einige interessante Sedimente. Als nächstes will ich in die Vulkaneifel. Damit verbindet mich schon seit meinem Studium etwas. Meine Diplomarbeit habe ich in der Ost-Eifel gemacht“, berichtet er.

Zwischendurch arbeitet er, denn von Spenden allein will er nicht leben. „Das Betteln ist eher ein Zuverdienst, wenn ich mir mal den Luxus einer Bahnfahrt leisten will. Manchmal mach ich das, wenn es richtig kalt wird. Aber eigentlich bin ich lieber an der frischen Luft“, so Moses. Jobs nehme er eigentlich alle an: „Ich habe jede Hilfsarbeit gemacht, die es gibt: Gartenarbeiten, Feldarbeiten, einmal habe ich ein ganzes Haus gestrichen und bei den Eigentümern gewohnt. Das waren unfassbar nette und großzügige Leute.“

Überwiegend positive Erfahrungen

Generell berichtet er überwiegend von positiven Erfahrungen mit den Menschen, denen er auf seiner Wanderung begegnet ist. „Überall gibt es gute Leute. Einmal habe ich bei einer Sinti-Familie am Bodensee übernachtet, die nichts hatte. Ein anderes Mal im Osten bei Leuten, die bis heute die Wende nicht verkraftet haben. Das hat mich beides mitgenommen“, so der 67-Jährige. Früher hätte er das nicht an sich herangelassen. Heute wisse er, was für Schicksale auch hinter Obdachlosigkeit oder Alkoholabhängigkeit verborgen liegen. „Das sind alles keine schlechten Menschen, aber viele sind auch durch Corona da reingerutscht“, so Moses.

Dass jemand ihm etwas Böses gewollt habe, sei so gut wie nie vorgekommen: „Ganz selten gab es mal einen blöden Kommentar beim Betteln. Aber das macht mir nichts. Klar, auf den ersten Blick mag meine Bitte zur Spende manche Leute provozieren, so hätte ich früher vielleicht auch gedacht.“

Besonders hilfreich seien auf seiner Reise ausgerechnet diejenigen gewesen, von denen man vielleicht eher einen Platzverweis erwartet hätte. „Die Polizei ist sehr in Kritik geraten. Tatsächlich waren das immer die Menschen, die sich verpflichtet gefühlt haben, mir zu helfen. Die haben mir meist erstmal einen Kaffee und was gegen die Kälte angeboten“, berichtet der Aussteiger. Eine Ausnahme habe es allerdings gegeben. „Da bin ich in so eine Querdenker-Demo reingeraten. Eigentlich habe ich nur auf einer Bank ein Buch gelesen und plötzlich waren da überall so komische Verschwörungstheoretiker und die Polizei dachte wohl, ich gehöre dazu. Da gab’s dann erstmal eine lange Personalienaufnahme. Die ganze Situation war sehr angespannt, das hat mich schon aufgekratzt“, erzählt Moses. Dennoch würde er jedem eine Reise wie seine ans Herz legen. „Drei Jahre am Stück ist schon eine harte Nummer. Aber vielleicht mal für einen Monat, das kann ich eigentlich jedem empfehlen. Ich war vorher unfassbar ignorant, jetzt akzeptiere ich jeden Menschen wie er ist. Das könnte einigen anderen auch mal gut tun“, sagt er.

Für immer will aber selbst er nicht obdachlos sein. „Manche würden mich einen Aussteiger nennen. Tatsächlich bekomme ich aber bald Rente. Ich bin 67 Jahre alt und bis auf die letzten drei Jahre habe ich immer geackert. Und dann möchte ich auch mal wieder eine Wohnung haben“, erzählt Moses.

Was er als erstes plant, wenn er wieder ganz bodenständig ein Dach über dem Kopf hat? „Ich will mal wieder kochen. Am liebsten italienisch. Ich vermisse eine richtig gute Pasta mit Soße und Aufläufe aus dem Ofen“, sagt er.

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