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BuchvorstellungSo gelangte ein Euskirchener vom Konzentrationslager zur SS-Sondereinheit

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Der Autor Andreas Züll sitzt vor einem Regal voller Bücher und hält einen alten Briefumschlag in der Hand.

Einen an Heinrich Himmler adressierten Umschlag, der sich im Nachlass von Carlhans Jung befand, zeigt hier Autor Andreas Züll.

In seinem neuen Buch „Wehrunfähig“ spürt der Eifeler Autor Andreas Züll dem Werdegang von Carlhans Jung aus Euskirchen-Kuchenheim nach.

Es ist ein Blick hinter das Tor zur Hölle, den Andreas Züll in seinem neuen Buch „Wehrunwürdig“ wirft. Darin beleuchtet er die grausamsten und unmenschlichsten Verbrechen, die von den Deutschen während des Zweiten Weltkrieges verübt wurden. Denn die Spuren, denen der Autor bei der Recherche zur Biografie des Kuchenheimers Carlhans Jung nachging, führten zur berüchtigten SS-Sonderformation Dirlewanger, die als Täter von systematischen Mordexzessen und Massenexekutionen gilt. Mit dem Buch legt Züll damit zum ersten Mal die historische Aufarbeitung der Biografie eines der Menschen dar, die im Nationalsozialismus in dieser Einheit Dienst taten.

Dass dies möglich wurde, ist dem Zufall zu verdanken. „Ich lag im Jahr 2021 nach einer Operation auf dem Sofa, als Horst Schuh vorbeikam, um mich zu besuchen und mir einen Ordner mit Unterlagen in die Hand zu drücken“, erinnert sich Züll. Dabei habe es sich um den Nachlass der Familie Jung gehandelt, den Schuh auf einem Flohmarkt entdeckt und erworben hatte. Ein Glücksfund, denn so etwas landet meist in der Blauen Tonne, die, wie Züll den Zülpicher Archivar Hans-Gerd Dick zitiert, der größte Feind des Historikers ist.

Auf blutrünstige Schilderungen verzichtet der Autor

„Zuerst hatten wir vor, einen Artikel daraus zu machen, doch dann habe ich in den Unterlagen die Feldpostnummer der Formation Dirlewanger gefunden“, so Züll. Ein Sachbuch zu schreiben sei also naheliegend gewesen, betont der Autor, der auch als Lyriker und Erzähler bekannt ist. So aber besann er sich auf sein Geschichtsstudium, das er erfolgreich in Trier abgeschlossen hat.

Was dem Buch guttut, denn statt blutrünstige Schilderungen zu formulieren, verweist Züll auf Quellen wie Eugen Kogon und dessen Buch „Der SS-Staat“, in dem dieser die Zustände im KZ Buchenwald aus eigener Erfahrung darstellt. Nur wenige Wochen nach Kogon wurde auch Jung 1939 in dieses Konzentrationslager eingeliefert. 1943 wurde er von dort entlassen und tauschte die Häftlingskleidung gegen die Uniform der berüchtigten SS-Einheit.

Mehrere alte Schwarz-Weiß-Fotos, die eine SS-Formation aus der Zeit des Nationalsozialismus zeigen, liegen auf einem Haufen.

Auch Fotos der SS-Sonderformation Dirlewanger gehören zum Nachlass des Kuchenheimers.

Ein altes Schwarz-Weiß-Foto zeigt Carlhans Jung in der Uniform einer SS-Formation, auch eine Maschinenpistole ist zu sehen.

Vor der Kamera posiert Carlhans Jung in der Uniform der SS.

Der Reisepass von Carlshans Jung

Der Reisepass des SS-Grenadiers Carlhans Jung.

„Im Schicksal von Jung bündeln sich sämtliche Abgründe der ersten Hälfte der Zwanziger Jahre, das ist programmatisch“, stellt Züll fest. 1899 geboren, beendete er seine Schullaufbahn 1917 noch vor dem Abitur, um in den Ersten Weltkrieg zu ziehen, wo er mit dem Eisernen Kreuz 2. Klasse ausgezeichnet wurde. Für die Zeit der Weimarer Republik sind verschiedene Arbeitsverhältnisse dokumentiert, in denen sich unausgesprochen die chaotischen Verhältnisse während der Inflation und der Weltwirtschaftskrise widerspiegeln.

Jung arbeitet in Bochum, Dortmund, Bad Kissingen, Berlin und vielen anderen Orten, meist als Buchhalter. Immer wieder kehrt er in den elterlichen Betrieb zurück, eine Zimmerei mit Sägewerk, die aber 1926 in Konkurs geht. Sein Lebensweg erinnert ein wenig an die Romanfigur Franz Biberkopf aus Alfred Döblins „Berlin Alexanderplatz“. Ähnlich wie dieser landet auch Jung im Gefängnis.

Taten der SS-Formation Dirlewanger werden ab 1960 aufgearbeitet

Nachdem er sich 1932 als Möbelhändler in Kassel selbstständig gemacht hat, wird er 1934 zu fünf Jahren Gefängnis wegen Betrugs und Unterschlagung verurteilt. Der Grund dafür bleibt im Dunkeln. Doch das führt dazu, dass er kurz nach seiner Entlassung im Jahr 1939 von der Gestapo in Vorbeugehaft genommen und als Berufsverbrecher in das KZ Buchenwald gebracht wird. Dort landet er nach einiger Zeit in der Schreibstube, wie aus den vorliegenden Dokumenten hervorgeht.

Dass er durch seine Haftstrafe als „wehrunwürdig“ bezeichnet worden war, dürfte der ehemalige Frontsoldat als Makel empfunden haben, mutmaßt Züll. 1943 gelingt es ihm, aus dem Konzentrationslager entlassen zu werden über den einzigen möglichen Weg: als SS-Grenadier der Formation Dirlewanger. Es waren vor allem ehemalige KZ-Häftlinge, die aus der Haft, quasi zur Bewährung, in dieser Einheit versammelt wurden. Erst ab 1960 setzte die wissenschaftliche Aufarbeitung der Taten dieser Spezialeinheit ein, die unter anderem bei der Niederschlagung des Aufstandes im Warschauer Stadtteil Wola beteiligt war. Viel Konkretes ist aber bis heute nicht über die Einheit bekannt. Die meisten der Täter seien nie angeklagt oder verurteilt worden, führt Züll aus.

Formation verübte Massaker an der Zivilbevölkerung

Anhand der Fotos und Unterlagen, die im Nachlass zu finden sind, wird aber deutlich, dass Jung in einer Einheit war, die mit Motorrädern in Weißrussland unterwegs war. Dort, so Züll, seien durch solche Gruppen Massaker an der Zivilbevölkerung verübt worden. „Die Spezialität von Dirlewanger war, die Menschen in eine Scheune zu treiben und diese anzuzünden“, sagt er. Selbst innerhalb der SS habe die Formation als besonders grausam gegolten.

Was Jung dort erlebte, ist nicht dokumentiert. Doch akribisch listet Züll auf, was über die Untaten der Formation bekannt ist. „Es ist ausgeschlossen, dass Jung nicht mindestens Zeuge dieser Gräueltaten wurde“, schreibt er. Hinhalten und Schießen sei der einzige Zweck dieser Einheit gewesen. Und zu sterben. Am 3. Januar 1944 stirbt Carlhans Jung bei Minsk. Sein Grab ist nicht erhalten.

Minuziös hat Züll über die SS-Formation Dirlewanger recherchiert. Doch auch über die 1932 geschlossene Ehe von Jung mit der Jüdin Auguste Grünthal hat er nachgeforscht. So konnte er nicht nur herausfinden, dass diese 1939 in Auschwitz ermordet wurde, genau wie Jungs Stiefsohn Hermann, der kurz vor Kriegsbeginn noch als Flüchtling in die Niederlande kam. Von ihm ist ein Foto erhalten, das in den Band aufgenommen wurde.

In seiner wissenschaftlichen Nüchternheit und historischen Faktenverliebtheit ist „Wehrunwürdig“ ein spannender Beitrag über ein menschliches Schicksal, das beispielhaft die Geschichte Deutschlands in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts widerspiegelt. Doch immer wieder scheint auch das literarische Talent von Züll zwischen den erschütternden Fakten durch.

Erschienen ist das Buch „Wehrunfähig“ mit 142 Seiten und einem Vorwort von Horst Schuh im Wissenschaftlichen Verlag Trier unter der ISBN-Nummer 978-3-98940-082-5 zum Preis von 25 Euro.