Brennpunkt Deutscher PlatzAnwohner in Weilerswist fühlen sich alleingelassen

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Josef Schwingeler steht vor seinem Fenster mit Blick auf eine Weilerswister Straße.

Die Fenster in Josef Schwingelers Küche am Deutschen Platz in Weilerswist waren lange undicht.

Anwohner vergleichen den Deutschen Platz in Weilerswist mit dem Kölnberg. Drei Wochen lang fiel allein in dem Wohnblock ein Aufzug aus.

Marion Schwingeler geht ihren Vater nicht gern besuchen. Das liegt allerdings nicht an ihrem Vater, sondern an seiner Wohnsituation. Josef Schwingeler lebt in einer der Sozialwohnungen am Deutschen Platz 5 in Weilerswist. Für Schwingeler ist der Deutsche Platz das Weilerswister Pendant des Kölnbergs in Köln-Meschenich. Es sei dreckig und laut, jeder mache irgendwie sein Ding und die Sperrmüllhaufen seien in Weilerswist inzwischen eine Sehenswürdigkeit. Leute blieben extra stehen, um sie zu fotografieren.

Die Wohnungen am Deutschen Platz in Weilerswist.

Bei Sonnenschein sehen die Wohnungen am Deutschen Platz in Weilerswist idyllisch aus.

An der gläsernen Eingangstür der Hausnummer 5 hängt ein Ausdruck. Es gebe eine Aufzugstörung, steht da. „Reparatur dauert bischen längere Zeit wegen fehlende Teile ins Lager. Wir bitten Ihre Verständnis!“ Eine Frau kommt aus der Haustür. Sie geht am Stock, ihre Knie zittern. „Kniearthrose“, sagt sie. Und dass das Treppensteigen für sie gerade „nicht so der Renner“ sei. Über den ausgefallenen Aufzug wolle sie sich dennoch nicht allzu laut beschweren. Schließlich gebe es hier viele andere Menschen, die seit Wochen überhaupt nicht mehr aus ihren Wohnungen kämen.

Auf einem Zettel stehen Informationen über den defekten Aufzug.

Ein Aushang informiert die Bewohner über den defekten Aufzug.

Einer davon ist der Vater von Iris Lafazanis. Er sitzt im Rollstuhl, ist also auf den Fahrstuhl angewiesen, um am Leben vor der Haustür teilzunehmen. Seit 2009 lebt er in einer der Wohnungen, die auf dem Papier als „barrierefrei“ ausgewiesen sind. Vier längere Aufzugausfälle hat er inzwischen erlebt. Lafazanis berichtet, dass dieser aber besonders schlimm für ihn gewesen sei.

Er hat mir gesagt, er will aus dem Fenster springen.
Iris Lafazanis über ihren gelähmten Vater, der aufgrund des defekten Aufzugs an seine Wohnung gefesselt war

Drei Wochen habe er in seiner Wohnung ausharren müssen. Und das über Weihnachten und Silvester. „Er hat mir gesagt, er will aus dem Fenster springen“, sagt sie. Er habe seine „Gefangenschaft“ nicht mehr ertragen können. Sogar die Nahrungsaufnahme habe er verweigert. „Und ich habe diesmal wirklich überlegt, den Rettungswagen zu rufen. Dann wäre er sicher in die Psychiatrie gekommen.“ Weihnachten hat Lafazanis in diesem Jahr in der kleinen Wohnung ihres Vaters verbracht. Jetzt ist sie auf der Suche nach einer Erdgeschosswohnung.

Eine Frau wartet im Flur auf den Aufzug.

Die Situation am Deutschen Platz in Weilerswist ist vielen Bewohner ein Dorn im Auge.

Im Erdgeschoss des Hauses stehen entwendete Einkaufswagen des benachbarten Norma, eine faltbare Stoffbox, in der Müll gesammelt wird, Kinderwagen und Rollatoren. Einer davon gehört Josef Schwingeler. Ein wichtiges Utensil für den Mann, der seit einem Herzinfarkt in seinen Bewegungen eingeschränkt ist. „Wenn der uns nicht hätte“, sagt seine Tochter Marion Schwingeler in der ersten Etage. Während sie die Treppen hinauf steigt, keucht sie. „Dann wäre er aufgeschmissen“, sagt sie kurzatmig in der zweiten Etage. Auf der dritten Etage schweigt sie. Dass andere Bewohner des Hauses keine Angehörigen mehr haben, weiß sie.

Ein Toter erhält weiterhin administrative Benachrichtigungen

Josef Schwingeler wohnt auf der vierten Etage. Er öffnet die Tür und schimpft sofort los: „Die verstehen es nicht“, sagt er. Auf der Fußmatte der gegenüberliegenden Wohnung liegt ein Zettel. Jemand wollte zum Gas ablesen kommen, hat in der Wohnung aber niemanden angetroffen. Das sei auch kein Wunder, sagt Schwingeler. „Der Mann ist inzwischen seit einem Jahr tot und beerdigt.“ Doch immer noch bekomme der Tote administrative Benachrichtigungen.

Seinen Nachbarn, der einen Arbeitsunfall hatte, kannte Josef Schwingeler. Ebenso sein Apartment. Nach dessen Tod meldete Schwingeler Interesse an der gegenüberliegenden Wohnung an. Nicht weil sie größer sei oder schöner, oder weil sie einen besseren Ausblick hätte. Sondern weil er hoffte, dass dieser dauerhafte Luftzug dann aufhören würde.

Egal, wo er in seiner Wohnung stehe – überall sei es zugig. Einzig auf der Toilette sei er davor geschützt. Das würde ihren Vater ganz kirre machen, sagt Marion Schwingeler. Während andere Senioren Kreuzworträtsel lösten, suche ihr Vater, die Wohnung nach Rissen ab, durch die es zieht – immer bewaffnet mit einer Dose Spachtelmasse.

Lange waren die Küchenfenster undicht

Die Wohnung – zwei Zimmer, Küche und Bad, sieht aus, als hätte Josef Schwingeler sich einen kleinen Luftschutzraum bauen wollen. Seine Balkontür hat er überall dort, wo Tür auf Rahmen trifft, mit Panzertape abgeklebt. Es sind mehrere Schichten. Die verschiedenen Töne der Ausgeblichenheit verraten, dass Schwingeler das in mehreren Sitzungen getan hat. Vor der Balkontür lehnt der Bezug einer Gartenliege, fixiert wird er von einem Stuhl. In der Wohnung ist es enorm warm.

Angefangen hat Josef Schwingelers ständige Suche nach dem Ursprung des Windes vor zwei Jahren, sagt Marion Schwingeler. Damals seien die Fenster undicht gewesen. Das komme in den Wohnungen häufiger vor, berichtet auch Anwohner Sascha Seul. Weil die Fenster undicht seien, beginne es um den Rahmen herum zu schimmeln.

Das sei bei ihm genauso wie bei den Eltern, genauso wie bei Josef Schwingeler. Doch wenn man bei der Verwaltung anrufe, dann lande man meistens bloß auf einem Anrufbeantworter, der einem mitteilt, man solle eine Mail schicken. Das hat Sascha Seul auch getan. „Eine Antwort habe ich aber nicht bekommen.“

Eine blaue Wanne steht im Flur. Sie fängt Tropfwasser auf.

Im Flur tropft es aus einem großen Loch in der Decke. Das Problem wurde provisorisch gelöst, indem man eine Wanne darunter stellte.

Josef Schwingeler hat nicht nur eine, sondern 50 Mails geschrieben. Auf seinem Schreibtisch liegen unzählige Ausdrucke – versehen mit handschriftlichen Notizen. Schwingeler hat eine freundliche Antwort erhalten, in der seitens der Verwaltung der Vorschlag unterbreitet wird, man könne eine Firma beauftragen, die die Abdichtung der Fensterfront übernehme.

Nach einem Rohrbruch entwickelte sich Schimmel

Die Kosten habe er allerdings selbst zu tragen. Um diese gering zu halten, hat er mithilfe seiner Söhne dann letztendlich selbst Hand angelegt. 2000 Euro hat das den Rentner insgesamt trotzdem gekostet. Dass alle seine Söhne fachfremd sind, kann man an der Fensterfront sehen.

„Die Verwaltung kümmert sich eben selbst um nichts“, sagt Bewohner Sascha Seul. „Also wirklich um gar nichts.“ Bei seinen Eltern habe es vor einiger Zeit einen Rohrbruch gegeben. Deswegen schimmelte eine Wand. „Lang ist das her, da war der alte Vermieter noch da.“ Vielleicht sei unter dem auch nicht „immer alles top“ gewesen, aber immerhin habe man in Willi Thelen immer einen Ansprechpartner gehabt. „Einen, der sich gekümmert hat.“ Das Büro der Thelen GbR liegt auf dem Deutschen Platz – direkt neben der Eingangstür zu Sascha Seuls Haus. Ein greifbarerer Vermieter sei das gewesen.

Josef Schwingeler sitzt inmitten seiner Wohnung und liest in seinen Papieren.

Josef Schwingeler druckt sämtliche Mails aus, die er an die Verwaltung geschrieben hat. Es sind inzwischen mehr als 50.

Zu der Zeit des Rohrbruchs seiner Eltern haben dann Eigentümer und Verwaltung gewechselt. Seit dem 1. Dezember 2019 ist die IntReal International Real Estate Kapitalverwaltungsgesellschaft aus Hamburg Eigentümer, die Verwaltung übernimmt seitdem die Barton Group mit Sitz in Bonn. Zu ihren Aufgaben gehört unter anderem die Veranlassung von notwendigen Instandhaltungsmaßnahmen. Doch das ist eine Aufgabe, die laut Sascha Seul nur mangelhaft ausgeführt werde.

Die sitzen alles aus.
Bewohner Sascha Seul über die neue Verwaltung

Das Schimmelproblem seiner Eltern wurde zwar angegangen, doch nicht beseitigt. Die Wand wurde aufgerissen, eine Weile offenstehen gelassen und schließlich wieder zugespachtelt. Es habe nicht lange gedauert, bis die schwarz-gelbe Maserung auf der erneuerten Wand zurückkehrte. Und nun erreiche man wieder niemanden. „Die sitzen alles aus“, beklagt Seul.

Um die Hausverwaltung auf sich und seine Probleme aufmerksam zu machen, hat Josef Schwingeler eine radikale Maßnahme ergriffen. Nach schriftlicher Ankündigung hat er eigenmächtig seine Miete gekürzt: zunächst um 50, inzwischen um 100 Euro. Der Verwaltung sei das bisher aber noch nicht einmal aufgefallen, sagt er. Jedenfalls sei bisher weder eine Mahnung noch eine Antwort ins Haus geflattert.

Um auf sich aufmerksam zu machen, kürzen Bewohner ihre Miete

Auch Tanja Liguori aus dem zweiten Stock hat nach einigen Mails ihre Miete eigenmächtig gekürzt, nachdem ihre Heizung ausgefallen war. Eine Firma sollte damit beauftragt werden, sagt sie. Erschienen sind die Handwerker nie. Deswegen schrieb sie eine Mail direkt an die Firma. Die Antwort: Es sei nie ein solcher Auftrag erteilt worden.

Tanja Liguori liegt mit einer schwarzen Katze und einem schwarzen Hund auf der Couch.

Gerade erst ist ihre Hündin Molly bei Tanja Liguori eingezogen. Jetzt droht ihr und ihren Tieren die Räumungsklage.

Wie Josef Schwingeler sammelt auch Tanja Liguori sämtlichen Schriftverkehr in ausgedruckter Form in einem Ordner. Zwischen ihren Dokumenten befindet sich auch die Vermieterbescheinigung eines fremden Mieters aus Dormagen. Dieser lebt in einem Haus, das die Barton Group auch verwaltet. „Die haben uns wohl verwechselt“, sagt Liguori. Dabei sind sich Vor- und Nachname nicht im Ansatz ähnlich. Sie glaube, dass das in puncto Datenschutz „irgendwie nicht in Ordnung“ sei. „Aber in dem ganzen Papierkram bin ich einfach nicht so gut.“

Es kann doch nicht sein, dass wir Mieter nur Pflichten, aber gar keine Rechte haben – nur weil wir arm sind.
Tanja Liguori, Bewohnerin des Deutschen Platz 5

Iris Lafazanis, nicht nur Tochter, sondern auch Weilerswister Ratsmitglied, sagt, dass genau das ein großes Problem bei den Bewohnern im Umgang mit der Verwaltung sei. Der Bildungsstand sei niedrig. Viele Bewohner seien froh, überhaupt eine Wohnung zu haben. Bei den meisten gelte es, nicht negativ aufzufallen. Deswegen ertrage man es auch, wenn die Verwaltung nicht, nicht sofort oder unangemessen auf Probleme reagiere. Falsche Nebenkostenabrechnungen, wie sie auch schon ihr Vater bekommen habe, würden nicht geprüft, sondern in Ermangelung besseren Wissens einfach gezahlt.

Viele Menschen in den Häusern am Deutschen Platz wollen ihren Unmut teilen, nur wenige wollen dabei auffallen. Eine ältere Frau, sagt bei halb geöffneter Haustür: „Wir sind alte Leute, wir brauchen diese Wohnung.“ Eine diffuse Angst vor der spontanen Kündigung wegen einer laut gewordenen Beschwerde zieht sich durch alle Hausflure des Deutschen Platzes.

Tanja Liguori steht inzwischen tatsächlich die Räumungsklage bevor – wegen eigenmächtiger Mietminderung. Doch die Behauptung, sie habe über viele Monate keine Miete gezahlt, sei nicht wahr. Das werde sie auch mithilfe ihrer Kontoauszüge beweisen können. Liguori hat inzwischen den Mieterschutzbund um Hilfe gebeten. „Wenn ich diese Wohnung hier verliere, weiß ich nicht, wohin“, sagt sie. Und dass sie weiß, dass sie mit der Miete „Mist gebaut“ hat. Aber sie ist trotzdem wütend: „Es kann doch nicht sein, dass wir Mieter nur Pflichten, aber gar keine Rechte haben – nur weil wir arm sind.“


Seit dem 10. Januar läuft der Aufzug  am Deutschen Platz wieder

Erstmals haben Mieter die Verwaltung am 11. Dezember 2023 auf den defekten Fahrstuhl hingewiesen, sagt Christof Hardebusch für die Barton Group. Das mit der Reparatur beauftragte Unternehmen meldete am 15. Dezember, dass Ersatzteile nicht lieferbar seien. Darüber seien die Mieter per Aushang informiert worden.

Am 10. Januar teilt Hausmeister Eugen Bleich dieser Zeitung mit, die Reparatur des Fahrstuhls könne noch eine Woche dauern. Es dürften eher 14 Tage werden, schätzte Stephanie Böhm von der betreuenden Aufzugsfirma. Es fehlten Ersatzteile. Verschleißteile seien das: Türrückzugsfedern und Rollen, die gerade nicht vorrätig seien. Die müsse man aus dem Lager in Osnabrück bestellen.

Am Abend des 10. Januar läuft der Aufzug wieder. Man habe noch am selben Abend einen Techniker geschickt, teilt Claudia Herren von der Aufzugsfirma mit. Da die Ersatzteile nur auf einer Etage benötigt würden, habe man sich intern überlegt, dass man trotzdem alle übrigen Etagen wieder anfahren könne. So könne der Fahrstuhl schon in Betrieb genommen und die Teile später eingebaut werden. Aus der Stellungnahme der Barton Group: „Sicherlich haben neben den fehlenden Ersatzteilen auch die Feiertage bei der Behebung des Problems zu Verzögerungen geführt."

Über die Vorwürfe der Bewohner, was die Heizung betreffe, sagt Hausmeister Eugen Bleich: „Sie sind selbst schuld.“ Er gehe davon aus, dass die Anwohner Geld sparen wollten und deswegen die Heizung herunterdrehten. Wenn sie sie dann wieder aufdrehen wollten, dauere es eben bis zu zwei Stunden, bis die Heizung wieder warm werde. Wenn aber wirklich einmal etwas kaputt sei, dann würde er sich kümmern.

Auf die Frage, wie bei größeren Problemen die Verwaltung zu erreichen sei, diktiert Eugen Bleich dieselbe E-Mail-Adresse, die auch auf der Mailbox der Barton Group angesagt wird: „info@ibs-property.de.“ Einen anderen Weg gebe es nicht. 

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