Ohnmacht und SchamEmotionale Schäden nach der Flut sind ein ernstes Problem

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Auch ein Wohnwagen wurde durch die Fluten vor die Klinik gespült.

Ahrweiler/Erftstadt – Wie eine Festung thronte die Dr. von Ehrenwallsche Klinik 135 Jahre lang neben der Ahr. Zwei Weltkriege hat sie weitestgehend unbeschadet überstanden, diente währenddessen als Lazarett. Der Flutkatastrophe, die Ahrweiler in der Nacht vom 14. Auf den 15. Juli erfasste, hat die Fachklinik für Psychiatrie, Psychotherapie, Neurologie und Psychosomatik nicht standgehalten. Patienten können am Standort selbst auf absehbare Zeit nicht mehr behandelt werden. „Ein Gebäude ist einsturzgefährdet, die Turnhalle mit Anhang ist zum Teil schon eingestürzt“, berichtet Christoph Smolenski, Geschäftsführer der Klinik. Die historischen Gebäude hingegen „haben das alles ausgehalten. Sie sind nur total verwüstet.“

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Die historischen Gebäude der Ehrenwallschen Klinik haben der Flut standgehalten.

160 Patienten hätten sich in der Flutnacht in der Klinik befunden, erzählt Chefärztin Katharina Scharping. Die Patienten und das Klinikpersonal „hatten sich in die oberen Stockwerke geflüchtet, sodass Gott sei Dank niemandem etwas passiert ist.“ Erst am Donnerstagmittag sei es gelungen, Zugang zu der Klinik zu bekommen. „Die Patienten mussten dann möglichst schnell evakuiert werden, weil nicht klar war, ob und wann es eine weitere Flutwelle geben würde“, so Scharping. Sie hätten nicht anders gekonnt, als sie zu entlassen. „Wobei wahrscheinlich auch Patienten darunter waren, die in der Flutnacht selber obdachlos geworden sind, denn viele kommen aus der Region. Wir konnten aber nicht mehr tun, als einen Zettel mit den Medikamenten mitzugeben und eine Tüte mit der nötigen Wäsche.“

Emotionale Folgeschäden sollten nicht unterschätzt werden

Auch die zwölf Patienten von der geschlossenen Station mussten notdürftig mit privaten Autos in eine nahegelegene psychiatrische Klinik gebracht werden. Zwangsuntergebrachte Patienten dürfen eigentlich nur unter Polizeischutz verlegt werden. „Zwei sind im Zuge der Verlegung verschwunden“, berichtet die Chefärztin, „am nächsten Tag haben wir glücklicherweise erfahren, dass beide unverletzt wieder aufgetaucht sind.“

Die Ehrenwallsche Klinik in Ahrweiler zeugt nicht nur von der physischen Zerstörungsgewalt der Katastrophe Mitte Juli. Sie verweist auch auf die emotionalen Schäden, die die Flut im Ahrtal und in den weiteren betroffenen Gebieten bei den Menschen hinterlassen hat. Wo einst psychisch angeschlagene Menschen Zuflucht und den Weg in die Gesundung fanden, herrschen nun Chaos, Verunsicherung – und Aufräumarbeiten.

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Schutt und Trümmer liegen vor der Dr. von Ehrenwallschen Klinik in Ahrweiler.

Doch nicht überall werden sich die Schäden beseitigen lassen – materiell wie emotional. „Das sind sicherlich jahrelange Folgen, die wir erwarten müssen“, bestätigt Smolenski. „Der Mensch ist zum Teil sehr resilient, also sehr widerstandsfähig. Es werden auch nicht alle der traumatisierten Menschen eine Störung entwickeln. Aber bei etwa 20 bis 25 Prozent der Menschen, die das erlebt haben – und das ist eine ganz schöne Menge – kann man davon ausgehen, dass sie Langzeitfolgen davontragen werden.“ Vieles davon, glaubt der Facharzt für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie, werde vermutlich erst in einem Jahr oder später sichtbar werden.

Traumaprävention kann schlimmeres verhindern

Resilienz ist ein Wort, das Experten dieser Tage oft nutzen, wenn sie über mögliche psychische Folgeschäden durch die Flutkatastrophe sprechen. Per Definition ist damit die psychische Widerstandskraft gemeint, das Vermögen belastende Erfahrungen ohne weitere Beeinträchtigungen zu überstehen. In der Forschung geht man davon aus, dass die Resilienz wie ein Muskel trainiert werden kann. So erklärt sich, warum nicht alle Menschen traumatisiert werden, einige aber sehr wohl. Denn Muskeln übermüden, wenn sie keine Ruhepausen bekommen. Wer also bereits zuvor Belastendes erlebt hat, hat schon Kraft aufgebraucht. Auch die Corona-Krise ist so eine Belastung, die an manchen mehr, an anderen weniger gezehrt hat.

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Yvonne Birkel aus Erftstadt

Als Yvonne Birkel etwa einen Monat nach der Katastrophe Expertinnen und Betroffene zu einem Hochwasser-Traumaforum nach Erftstadt einlud, beobachtete sie bei vielen Menschen zwei bestimmende Gefühle: Ohnmacht und Scham. Birkel ist Lifecoach und beschloss nur wenige Tage nach der Katastrophe, Traumaexpertinnen in die Region zu bringen. Betroffene sollten die Möglichkeit haben, Fragen zu stellen. „Ich wollte den Menschen zeigen: Ja, ihr braucht jetzt gerade eine Schippe, aber was ihr auch braucht, ist eine Nachsorge und eine Fürsorge“, erklärt Birkel.

Am Anfang seien die Menschen in ihrem Aktionismus und Schockzustand noch gar nicht bereit, über die traumatischen Erlebnisse zu sprechen. Das ändere sich aber langsam, nach ein paar Wochen beginnen die Emotionen zurückzukehren. „Dies ist ein guter Zeitpunkt, um mit der Traumaprävention zu beginnen.“ Gleichzeitig betonte Birkel, dass nicht jeder Betroffene auch traumatisiert sei.

Mangel an Therapieplätzen in Deutschland

Bei einigen Teilnehmenden hätte sie bemerkt, dass das Thema Trauma mit gewissen Stigmata belegt sei. Etwa wenn Betroffene sähen, dass andere weniger unter dem Erlebten litten als sie selbst. Viele hätten dann das Gefühl: Mit mir stimmt was nicht, ich schaffe das alles nicht, aber andere schaffen es doch auch. „Immer dann, wenn man sich überfordert fühlt, ist es okay, sich Hilfe zu holen“, betont Birkel. Viele hätten damit ein Problem, wollten sich keine Pause erlauben. Doch gerade um eine Traumafolgestörung zu vermeiden, sei es wichtig, sich rechtzeitig Hilfe zu suchen. Schließe man die negativen Emotionen weg, können diese zu einem späteren Zeitpunkt mit ungleich heftigerer Wucht ausbrechen.

Nicht immer ist schnelle Hilfe leicht zu bekommen. Das Angebot kassenfinanzierter Psychotherapieplätze ist in Deutschland Mangelware. Zuletzt ergab eine Umfrage des Verbands für psychologische Psychotherapeuten, dass die durchschnittliche Wartedauer auf eine ambulante Therapie 22 Wochen beträgt. Lässt man privat bezahlte Plätze außen vor, müssen sich Kassenpatienten sogar 24 Wochen gedulden – also ein halbes Jahr. 2019 waren es noch 17 Wochen. Als einen möglichen Grund für die weiter gestiegene Wartezeit vermuten die Psychotherapeuten den erhöhten psychologischen Behandlungsbedarf infolge der Corona-Pandemie.

Solidaritätswelle mit den Betroffenen nicht abflachen lassen

In den Flutgebieten dürfte perspektivisch nun weiterer Bedarf entstehen. Die Ehrenwallsche Klinik in Ahrweiler hat deshalb in den vergangenen Wochen unermüdlich nach alternativen Behandlungsräumen gesucht, um zumindest die ambulanten und teilstationären Angebote der Klinik wieder teilweise aufnehmen zu können. „Wir haben lauter Ausweichquartiere gefunden, zum Teil sind uns auch Räumlichkeiten kostenfrei zur Verfügung gestellt worden“, berichtet Chefärztin Scharping. „Die Tagesklinik wird auf der leerstehenden Station eines anderen Krankenhauses mit etwa halb so vielen Patienten wie zuvor wieder an den Start gehen.“

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Mitarbeiter der Klinik seien auch mobil in Ahrweiler unterwegs, um den Betroffenen beratend zur Seite zu stehen. Nicht immer gehe es dabei um Psychotherapie. „Das, was die Menschen akut brauchen, sind Antworten auf Fragen wie: Wie komme ich jetzt an Geld? Wie komme ich an ein neues Obdach? Wie gehe ich mit Versicherungen um? Das sind Fragen, in denen unser Sozialdienst Beratung anbietet. Und das ist auch für die meisten Menschen tatsächlich erstmal noch viel vordergründiger.“ Experten gehen davon aus, dass die materielle Not noch eine ganze Weile für viele Betroffene Priorität haben werde. Erst später werde die emotionale Aufarbeitung beginnen können.

„Meine Befürchtung ist, dass jetzt ganz viele niedergelassene Psychotherapeuten einen Platz frei machen und anbieten jemanden zu übernehmen“, sagt Scharping. „Aber wenn das öffentliche Interesse nachlässt, wird wahrscheinlich der Moment kommen, in dem viel mehr psychiatrische und psychotherapeutische Behandlung gebraucht wird. Das wird sicherlich in den nächsten Wochen, Monaten, vielleicht auch Jahren noch problematisch werden.“

Denn wenn die Welle der Solidarität mit der Zeit immer weiter abflacht, wird das soziale Sicherheitsnetz Löcher bekommen. Dann werden emotionale Folgeschäden weniger gut aufgefangen werden können. Bis die Ehrenwallsche Klinik diesen Patienten wieder in den einst schützenden Mauern nahe der Ahr helfen kann, wird noch einige Zeit vergehen. Doch wieder aufbauen will Geschäftsführer Smolenski die Klinik in jedem Fall.

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