2 Stunden in LeverkusenJesus Christus hat auch die Benzstraße in Fixheide im Herzen

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Die Mitglieder der Freien Christen Leverkusen versammeln sich im Gemeindehaus an der Benzstraße zwischen Gartencenter und Lackierwerkstatt.

Leverkusen  – Matthias Münzer schaut mitleidig. „Wenn Ihr Dartpfeil auf der Stadtkarte die Benzstraße getroffen hat und Sie sich hier umschauen müssen, dann haben Sie ganz schlecht geworfen“, sagt er. „Hier ist nichts los. Hier wird nur gearbeitet.“

Oder man geht in der Mittagspause mal eben schnell zum Discounter um die Ecke, um eine Tüte mit Fertigsandwiches einzukaufen. So wie Matthias Münzer, der es wissen muss: Seit mehreren Jahren schon arbeitet er schließlich im Metallwerk Biebighäuser an der nahen Borsigstraße 14. Fährt jeden Tag aus Wiesdorf hierher.

Zur Serie

In unserer Serie „2 Stunden...“ werfen die Autorinnen und Autoren mit einem Dartpfeil auf eine Landkarte von Leverkusen. Wo auch immer der Pfeil landet, verbringen sie zwei Stunden. Sie erkunden den Zufallsort, treffen auf fremde Menschen, erleben Ungewohntes, Schönes und Skurriles – und erzählen davon.

Ins Industriegebiet Fixheide zwischen Alkenrath, Quettingen und Opladen. Wo nichts los ist und die Bürgersteige 24 Stunden lang hochgeklappt sind, weil tagsüber alle in den umliegenden Betrieben und Fabriken malochen. Und abends alle weg sind und anderswo über Bürgersteige laufen.

Einen schönen Tag wünscht Matthias Münzer dann noch – und weg ist er. Wieder an die Arbeit. Bis Feierabend ist und es für ihn wieder zurück ins Leben geht.

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Dieser alte Münzfernsprecher ist ein Relikt aus vergangenen Tagen der Telekommunikation.

Leben im Industriegebiet

Jörg Ewert hat diese Möglichkeit nicht. Der 62-Jährige lebt hier. Seit 2002. Zwanzig Jahre, gleich am westlichen Ende des Areals in einer Wohnung an der Straße Burgloch. Auch er sagt: „Hier ist tote Hose.“ Aber hier seien die Mieten eben noch erschwinglich. „Anderswo bekommt man heutzutage ja nichts mehr.“ Deshalb sei er hergekommen. Und deshalb sei er geblieben.

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Jörg Ewert lebt seit 20 Jahren im Industriegebiet und fährt für Erledigungen mit dem Bus nach Opladen.

Zudem ist er – wenn auch in Leverkusen aufgewachsen und seit seinem sechsten Lebensjahr in der Stadt ansässig – gebürtiger Duisburger. Duisburg – Industriestadt des Ruhrgebiets. Das passt. Das bleibt wohl irgendwie in einem drin. Ein Leben lang. Jörg Ewert erzählt das, während er zu Fuß zur Bushaltestelle geht. Er muss nach Opladen, „Erledigungen machen“. Die sind rund um Benz- und Borsigstraße schließlich nur in begrenzten Rahmen möglich.

Alles rund ums Auto

Es sei denn, es handelt sich um Erledigungen im Sinne von: Reparaturen, Ausbesserungen, An- oder Verkäufe von Autos. Dafür ist das hier ein El Dorado. Es gibt Lackierbetriebe, Karosseriebetriebe, Werkstätten aller Art. Eine große Tankstelle, nebenan die Zentrale der Wupsi mit ihren Bussen. Eine kleine Gastankstelle – aktueller Kurs: 98,9 Cent pro Liter.

Schräge, kuriose Ecken

Und doch: Wenn man sich ein bisschen umschaut, dann entdeckt man auch kuriose bis schräge bis seltsame Ecken: Die meisten Menschen, die an die Benzstaße fahren, tun das etwa, um im dortigen Gartencenter etwas zu kaufen. Da gerade Sommer ist, gibt es durchaus ein klein wenig Gewimmel auf dem Parkplatz parallel zur Straße. Am Rand der Parkbuchten steht ein alter Münzfernsprecher, das Kabel abgerissen, ein seltsam schönes Relikt aus alten Zeiten der Telekommunikation.

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Rund um die Benzstraße gibt es vor allem alles rund ums Auto - so wie diese Gastankstelle.

Nur ein paar Meter weiter haben die Freien Christen Leverkusen ihre Gemeinderäume. An der Tür hängt ein großes Kreuz. Oben drüber steht groß und für alle, die vorbeikommen sichtbar, der Spruch: „Jesus Christus ist derselbe gestern, heute und in Ewigkeit!" Die Worte „Jesus“ und „Christus“ sind dabei groß geschrieben. Ein bisschen so, als wolle damit gesagt werden: Der Heiland schaut auch hierher. Er hat auch die langweiligen und eher unansehnlichen Teile der Stadt im Blick und im Herzen.

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Die Mitglieder der Freien Christen Leverkusen versammeln sich im Gemeindehaus an der Benzstraße zwischen Gartencenter und Lackierwerkstatt.

Und überhaupt: Was heißt unansehnlich? Wenn sie an diesem Tag nicht zufällig und bedauernswerterweise geschlossen hätte und auf das Klingeln jemand reagieren würde, dann würde ein Blick in die Porsche-Garage „Fischer Oldtimer“ an der Borsigstraße ganz gewiss lohnen. Hier und da gibt es zudem durchaus ein paar Wohnhäuser, die mit Vorgärten voller Blumen die triste Industriegebietsatmosphäre aufhellen.

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Auch wenn es nur wenige Wohnhäuser gibt: Deren Vorgärten sind mitunter Farbtupfer im eher grauen Industriegebietsalltag.

Im hohen Gebäude an der Benzstraße 1 ist das Atelier der Künstlerinnengemeinschaft Etage 3 untergebracht – im dritten Stock, wie der Name es besagt. Und überhaupt darf man nicht vergessen, dass quasi gleich nebenan, hinter der Spielhalle an der Heidestraße, der grüne Bürgerbusch liegt und jeden Gedanken an Industrie vertreibt.

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Eine Spielhalle befindet sich im Osten des Areals am Rande des Bürgerbuschs.

Und dann gibt es rund um die Benzstraße noch den einen oder anderen Aufreger – und zwar nicht nur, wenn wie in der Vergangenheit im Werk von TMD Friction gestreikt und protestiert wird. Das wird klar, als Josef Huber um die Ecke kommt, seine Enkelchen an der Hand, und sich beschwert.

Der 76-jährige Wahl-Leverkusener, geboren in der Eifel, lebt am Bürgerbuschweg und sagt, dass die Stadt in diesem Gebiet – und vor allem an den Kreuzungen Bürgerbuschweg/Kruppstraße sowie Benzstraße/Heidestraße – bitteschön Markierungen auf die Fahrbahn auftragen müsse, die zeigten: „Hier gilt rechts vor links!“ Das vergäßen die meisten Autofahrenden an diesen Stellen nämlich.

Und das sei nicht für seine Enkelkinder gefährlich. Sondern für alle. Auch für ihn. „Ich wäre schon mehrmals mit anderen Autos zusammengestoßen, die mir die Vorfahrt genommen haben“, sagt er. So gehe es jedenfalls nicht weiter. Ergo: „Schreiben Sie das bitte auf. Vielleicht tut sich da ja was.“ Denn so tote Hose und leer und verlassen ist es dann offenbar doch nicht, dieses Industriegebiet rund um die Benzstraße. 

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