Chronik der Explosion am 27. JuliUm 9.37 Uhr wurde Leverkusen erschüttert

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Nicht lange nach der Explosion wechselt die Farbe der gigantischen Rauchwolke auf Schwarz.

Leverkusen – Der 27. Juli 2021, der Tag der Explosion am Sondermüllofen, muss in zwei Abschnitte unterteilt werden: Vor 9.37 Uhr und danach. Sieben Menschen sterben in den Minuten der Katastrophe, 31 werden verletzt.

Was in den Stunden vor der Explosion im Tanklager der Anlage geschah, erfährt die Öffentlichkeit nur tröpfelnd von Betreiber Currenta. Die ganze Wahrheit deckt hoffentlich die Staatsanwaltschaft auf.

An die Stunden nach der Explosion hat jeder seine eigenen Erinnerungen, ob Feuerwehrleute oder Nachbarn, die erst den Knall hörten, dann die bedrohliche schwarze Wolke sahen und später den Fallout aus Rußpartikeln und Isoliermaterial aus der Anlage über ihrer Stadt, über Häusern und Spielplätzen niedergehen sahen.

Am Anfang stand ein Kesselzerknall

Der eigentliche Beginn des Brandes war ein sogenannter Kesselzerknall. Ein Video aus dem Navigationsgerät eines Lkw, der auf das Tor des Entsorgungszentrums zurollt, hat den Augenblick aufgezeichnet, als der Kessel dem Druck nicht mehr standhielt. Um genau 9.36 Uhr und 59 Sekunden fliegt ein schweres Anlagenteil von Tank 3 in hohem Bogen 400 Meter weit über das Werksgelände. Es prallt auf ein Dach der Kläranlage. Die Chemikalien am Tank zerstäuben und entzünden sich sofort – die chemische Explosion.

Aus dem Feuerball, der schnell in den blaugrauen Himmel steigt, wird ein Rauchpilz. Erst ist der Rauch schmutzig weiß, dann färbt er sich innerhalb von Sekunden tiefschwarz und wird zu jener Wolke, an die sich wohl alle Leverkusener erinnern. Bilder von ihr gehen kurz darauf um die Welt.

Vor dem Tor stehen viele Lastwagen. Schon früh gab es deshalb die Vermutung, dass man sie nicht reingelassen hat, weil es ein Problem in der Anlage gegeben hatte, dass also die Explosion nicht aus heiterem Himmel gekommen ist. Und genau so war es – weiß man heute. Zunächst aber wurde es verschwiegen.

Späte Alarmierung

Unbeantwortet ist nach wie vor, weshalb niemand die Werkfeuerwehr trotz der sich verschärfenden Gefahr in Tank 3 vorsorglich alarmierte. Werk- und Berufsfeuerwehr wurden erst nach der Explosion gleichzeitig alarmiert.

9.45 Uhr: Durch einen Zufall ist Stadtbrandmeister Hermann Greven als erster Feuerwehrmann vor Ort. Er berichtet später, er habe einen Schwerstverbrannten gesehen. Ein Mitarbeiter sei in Flammen stehend gelaufen. Er sagt: Unverletzte Betriebsangehörige hätten sehr nah an der Einsatzstelle gestanden; die wurden weggeschickt.

9.49 Uhr: Die Sirenen in der Umgebung heulen. Es gibt mehrere Folge-Explosionen. Aber: Man kann nicht mit dem Löschen beginnen. Jedenfalls nicht so, wie man es müsste bei einer so gigantischen Explosion und einem Großbrand. Über der Unglücksstelle ist eine Hochspannungsleitung gespannt. Das obere Kabel ist abgerissen und hängt herab, verbindet eine 110 000-Volt-Leitung mit der Erde. Da kann man nicht mit Wasser oder Schaum spritzen.

10.21 Uhr: Die Rauchwolke zieht über Bürrig und Opladen. Zwei Polizeihubschrauber schweben permanent über der Stadt, in einem sitzt ein Feuerwehrmann, der die Kollegen unten mit Informationen versorgt. Psychosozial geschulte Betreuer für die Mitarbeiter sind da. Jetzt heulen alle Sirenen in der Stadt.

10.48 Uhr: Auch andere Tanks fangen Feuer. Die Feuerwehr kann wegen des Kabels immer noch nicht von allen Seiten ran.

10.50 Uhr: Zwar zieht der Qualm nach Osten, aber die Polizei sperrt vorsichtshalber die Autobahnen 59 und 1. Die Folge: Autofahrer weichen über den noch freien Westring aus, fahren durch die Wolke. Die meisten halten sich an die Empfehlung, Fenster und Türen zu schließen. Man sieht aber auch Radfahrer, die auf dem Bürriger Deich durch den Rauch fahren. Die Elektriker, die die Hochspannungsleitung abschalten sollen, damit endlich der Brand richtig bekämpft werden kann, stehen auf der Autobahn im Stau, die Polizei eskortiert sie.

10.57 Uhr: Der Luftraum wird gesperrt.

11.06 Uhr: Zwei weitere Tanks brennen, die Feuerwehr muss zusehen.

11.11 Uhr: Es wird klar, dass die Wolke zwar über die Stadt zieht, aber keinen Bodenkontakt hat: eine gute Nachricht.

11.32 Uhr: Fünf Personen werden vermisst. Die Hochspannungsleitung ist zwar abgeschaltet, aber immer noch nicht geerdet. Trotzdem nimmt die Feuerwehr das Risiko auf sich und beginnt mit dem Löschen.

12.15 Uhr: Die Tanks sind zwar gelöscht, es bleiben massive Nachlöscharbeiten.

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Nach dem Brand ist vom Tanklager neben dem Sondermüllofen nicht mehr viel übrig. 

12.17 Uhr: Fachleute vom Landesamt für Natur, Umwelt und Verbraucherschutz treffen ein, sie sammeln drei Materialproben und eine Wischprobe.

14.30 Uhr: Für die Behörden steht fest, dass es keine Gefährdung durch Luftschadstoffe gegeben hat. Die Aussage gilt bis heute. Greenpeace sieht das nach der Analyse eigener Proben differenzierter. Auch das gilt bis zum heutigen Tag.

Zwei Pressekonferenzen stiften eher Verwirrung

Was folgt, sind Pressekonferenzen. Am Tag der Explosion tritt für Currenta – die frühere Bayer-Tochter ist Betreiber des Sondermüllofens – Chempark-Chef Lars Friedrich auf. Er hat auch den Krisenstab geleitet. Auf Seiten der Stadtverwaltung hatte Baudezernentin Andrea Deppe den Hut auf. Die Arbeitsteilung während der Katastrophe wird sie Ende August so beschreiben: „Den Einsatz in Bürrig hat Currenta geleitet – wir haben uns um alles gekümmert, was außerhalb der Anlage war.“

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Zunächst ist nur klar, dass chlorierte und nicht chlorierte Lösungsmittel in den Tanks verbrannt sind. Am Dienstagnachmittag ist noch von einem Toten und vier Vermissten die Rede. Die Zahl der Todesopfer wird sich später auf sieben erhöhen; außerdem werden 31 Verletzte gezählt. Ob sich mit der Rauchwolke auch Giftstoffe in der Stadt und Nachbarkommunen verbreitet haben, weiß man noch nicht. Die Stadtverwaltung sperrt vorsorglich Spielplätze.

Tags drauf tritt die Currenta-Geschäftsführung auf den Plan. Frank Hyldmar, Wolfgang Horney, Technik-Chef Hans Gennen berichten, dass es keine Hoffnung mehr gebe, die Vermissten noch lebend zu finden. Geborgen sind bis dahin fünf Tote. Mittlerweile hat die Kölner Staatsanwaltschaft die Ermittlungen aufgenommen. Vorwurf: fahrlässiges Herbeiführen einer Sprengstoff-Explosion und fahrlässige Tötung.

Was war nur in den Tanks?

Schon an Tag eins beginnt das Verwirrspiel um die Stoffe, die bei dem Unglück verbrannt sind: Einerseits heißt es, man könne die Inhalte der Tanks „auf Knopfdruck“ ermitteln und die Infos den Behören bereitstellen. Aus dem Umweltministerium des Landes heißt es, die Stoffliste sei erst am Freitag komplett gewesen. Drei Tage nachher. Längst sind da Anwohner aufs Höchste alarmiert. Nicht nur Leute des Landesamts für Natur, Umwelt und Verbraucherschutz sammeln in Bürrig Rußflocken ein. Auch Greenpeace ist unterwegs.

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Peter Odenthal aus Bürrig: Der frühere Bayer-Mann kennt sich mit Luftschadstoffen aus. Und ist tief besorgt.

Die Rolle des Lanuv ist bis heute ebenso entscheidend wie sie hinterfragt wird: Drei Tage nach dem Unglück gibt Lanuv-Chemiker Ulrich Quaß eine halbe Entwarnung, die freilich auf nicht sehr vielen Proben beruht. Dioxin haben seine Leute nicht gefunden. Trotzdem sollte man die Rußflocken nicht mit bloßen Händen berühren, Obst und Gemüse aus dem eigenen Garten nicht essen, Kinder nicht draußen spielen lassen. Solange, bis weitere Untersuchungen abgeschlossen sind. Das ist am Donnerstag, 5. August, der Fall.

Der 100-Euro-Freibrief

Längst haben sich da Fragen aufgehäuft. Es wird deutlich, dass Currenta nicht in dem Maß informiert wie gewünscht. Für Unmut sorgt eine Abtrittserklärung, mit der Currentas Versicherer durch Bürrig zieht: Mit 100 Euro sollen auch alle künftigen Schäden abgegolten sein. Das Dokument wird nach der Berichterstattung im „Leverkusener Anzeiger“ umformuliert.

Am Freitag, 6. August, räumt die Bezirksregierung ein, dass die letzte Inspektion der Anlage nicht komplett war: Wegen der Corona-Pandemie habe es nur eine Video-Konferenz mit Currenta gegeben. Die Begehung habe man auf August verschoben. Dazu kam es nicht mehr.

Betriebsleiter unter den Opfern

Zwei Wochen nach der Explosion befasst sich der Landtag mit Bürrig. Umweltministerin Ursula Heinen-Esser sagt, der Betriebsleiter sei unter den Toten. Tags darauf gibt es Hinweise an die Polizei auf Probleme schon vor der Explosion. Die beiden Zwischenberichte von Experten, die von der Bezirksregierung am 30. August und 21. September veröffentlicht werden, bestätigen das: Ab 5 Uhr stieg die Temperatur in Tank 3 stetig an, der Überdruck konnte nicht mehr abgebaut werden. Der Tank platzte, die Explosionswolke zündete, der Brand folgte. Der Stoff war ein Import aus Dänemark und erstmals in Bürrig. Die Bezirksregierung warnt nach dem ersten Bericht alle Giftmüll-Verwerter vor der Substanz.

Knapp vier Wochen später zeigen sich erste Wasserprobleme: Die Grundwasser-Pumpen der Giftmüll-Deponie in der Dhünnaue sind sechs Tage nicht gelaufen, ob gefährliche Stoffe in den Rhein geflossen sind, müssen Experten prüfen. Ein am 30. August vorgelegtes Gutachten gebe laut erstem Eindruck Entwarnung, sagen Umweltamt der Stadt und Bezirksregierung. Vier Wochen nach der Havarie veranstaltet die Stadt eine Trauerfeier, später gedenkt auch Currenta der sieben Todesopfer, im kleinen Kreis.

Ein Netz-Auftritt reicht nicht

Am 15. September kündigt der BUND an, eine Klage gegen Currenta zu prüfen. Auf einer Podiumsdiskussion mit Greenpeace, und veranstaltet von der Klimaliste, müssen viele Fragen ohne Antwort bleiben. Auch die zuletzt von Currenta ins Netz gestellte Internetseite, mit der das Unternehmen auf den immer wieder erhobenen Vorwurf der Intransparenz reagieren will, reicht den Bürgern nicht.

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Die vielen Tonnen Löschwasser und -schaum bereiten immer weiter Probleme.

Was alles nicht gesagt wird, zeigt sich zuletzt kurz vor Weihnachten: Nach Recherchen räumt Currenta ein, dass mit dem verbotenen Insektengift Clothianidin belastetes Löschwasser in den Rhein geleitet wurde. Das war noch mit dem Lanuv abgesprochen – die Konzentration des Gifts sei so niedrig gewesen, dass man keinen Rheinalarm auslösen musste. An Heiligabend wird mitgeteilt, dass fünf Monate lang belastetes Löschwasser aus einem undichten Tank in den Rhein floss. Das sei nicht bemerkt worden. Erst auf Nachfrage nennt Currenta Mengen: 1300 Kubikmeter kontaminiertes Wassers sind in den Strom geraten, aus dem viele Millionen Anrainer bis in die Niederlande ihr Trinkwasser beziehen. Die Bezirksregierung reagiert erstmals scharf: Sie schaltet den Staatsanwalt ein.  

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