Tanja Stichnoth fotografiert Sternenkinder„Jeder meiner Einsätze ist traurig“

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Leverkusen – Wenn bei Tanja Stichnoth der Alarm auf dem Handy angeht, bedeutet das für die Leverkusener Fotografin und Make-Up-Artistin in der Regel die Fahrt in ein Krankenhaus. Sie fotografiert für die „Dein Sternenkind Stiftung“ und wird gerufen, wenn in der Region rund um Leverkusen ein Sternenkind geboren wurde. „Nicht jeder Einsatz ist gleich, aber alle Einsätze sind traurig“, erzählt Stichnoth.

Als Sternenkind werden Babys bezeichnet, die vor, während oder im ersten Lebensjahr nach der Geburt versterben. Laut dem statistischen Bundesamt waren das im Jahr 2020 5535 Kinder, jedoch wird nicht jeder ungewollte Schwangerschaftsabbruch auch als solcher dokumentiert.

600 Fotografinnen und Fotografen

Die Beratungsstelle Pro Familia schätzt, dass 20 bis 30 Prozent der Schwangerschaften verfrüht zu Ende geht, wobei die meisten Fehlgeburten innerhalb der ersten sechs Wochen stattfinden. Für die deutschlandweite „Dein Sternenkind Stiftung“ arbeiten rund 600 Fotografinnen und Fotografen, die für ihre Arbeit im Jahr 2017 mit dem Deutschen Engagementpreis ausgezeichnet wurden. Der Initiator der Stiftung Kai Gebel erhielt außerdem in diesem Jahr das Bundesverdienstkreuz.

Stichnoths erster Einsatz als Sternenkinderfotografin führte sie im März 2020 nach Bonn. Andere Fotografen, die ebenfalls ehrenamtlich für die Stiftung arbeiten, hatten ihr im Voraus angeboten sie bei ihrem ersten Einsatz zu begleiten, Stichnoth entschied sich jedoch dafür den Weg alleine zu gehen.

„Ich war sehr nervös und wusste nicht, was mich erwartet. Aber als ich angefangen habe, das Kind zu fotografieren, bin ich ruhig geworden und letztendlich ergab sich alles“, sagt sie. Zu ihrer Equipmenttasche gehören neben ihrer Kameraausrüstung auch Babykleidung und Kerzen. Da die normale Babykleidung für Sternenkinder in der Regel zu groß ist, nähen ehrenamtliche Nähgruppen aus Stoffresten kleine Kleidungsstücke, Decken oder Mützen, die sie den Fotografen oder Kliniken spenden.

Kein Unterschied zu anderen Neugeborenen-Fotos

„Wir wollen die Kinder mit Würde fotografieren, daher fotografieren wir auch viele Details, zum Beispiel die Nase, ein Ohr oder den Haarflaum. Letztendlich unterscheiden sich die Bilder nicht von anderen Neugeborenen-Fotos. Auch kleine Kinder sind etwas Besonderes und nicht entstellt, nur weil sie zu früh oder zu klein auf die Welt kamen“, erklärt die Fotografin – für sie sei jedes Kind auf die eigene Art und Weise schön.

Am liebsten übernehme sie nächtliche Einsätze, da zu dieser Zeit das alltägliche Treiben im Krankenhaus ruhiger ist. Schwierig sei es besonders dann, wenn zwei emotionale Welten aufeinandertreffen: In einem Raum ist ein Kind gestorben, auf dem Flur nebenan liegt jedoch eine Frau, die glücklich ihr gesundes Neugeborenes im Arm hält. Verlust und Hochgefühle sind dann nur wenige Meter voneinander entfernt.

Ein Päckchen für die Eltern

Wenn die Bilder fertig bearbeitet sind, packt Stichnoth für die Eltern ein Päckchen mit den Fotos. Sie weiß, dass viele in dieser Phase sehr beschäftigt sind – manche schauen sich die Fotos auch erst nach ein bis zwei Jahren an, da der Verlust noch zu groß sei.

Nicht alle Menschen können die Arbeit machen, die Tanja Stichnoth regelmäßig in den Kliniken leistet. „Wenn ich das Erlebte mit nach Hause nehmen würde und danach stundenlang darüber reden müsste, wäre es vielleicht auch nicht das Richtige“, so Stichnoth. Als sie sich dazu entschied, ein Ehrenamt aufzunehmen, habe sie erst über Trauerbegleitung nachgedacht, erzählt sie. „Alles, was Trauer und Tod betrifft, wird in unserer Gesellschaft buchstäblich totgeschwiegen“, findet Stichnoth.

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Über eine bekannte Hebamme erfuhr sie von dieser Art des Ehrenamts und kontaktierte die Stiftung. Dass sie selbst ein Sternenkind auf die Welt gebracht hat, sei nicht ausschlaggebend gewesen. „Ich möchte vielmehr den Menschen etwas Gutes tun und eine schöne Erinnerung schaffen. Da ist nicht nur ein Kind gestorben, sondern auch eins geboren worden“, sagt sie.

Viele Gründe für Abbrüche

Gründe für verfrühte Schwangerschaftsabbrüche gibt es viele: Gendefekte, Herzfehler oder organische Fehlbildungen können dazu führen, dass die Kinder nicht überlebensfähig sind. Stichnoth hat keine Berührungsängste davor, die Kinder anzufassen. „Wenn ich kein Problem damit habe, das Kind anzufassen, haben die Eltern das meistens auch nicht“, stellt sie fest.

Auch emotionale Berührungsängste habe sie keine – ihr ursprünglicher Gedanke, als Trauerbegleiterin zu arbeiten, ist somit auch Teil der Sternenkinder-Fotografie, da es Seelsorge für die Eltern bedeutet. Wenn die Mütter noch im OP sind, habe sie oft weinende Väter vor sich sitzen. Abstands- und Hygieneregeln verbieten jedoch das Umarmen – auch hier zeigen sich die Folgen der Pandemie, welche Auswirkungen sie auf den Umgang miteinander hat und wie dringend wir Berührungen in emotional aufgewühlten Situationen benötigen. Tanja Stichnoth hat gelernt, dass es oft aber auch einfach nur wichtig ist, für die Betroffenen da zu sein und dass diese über das Erlebte sprechen können.  

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