HochwasserDie Flut hat in Leverkusen tiefe Wunden gerissen – doch es gibt Lichtblicke

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Hochwasser in Opladen

Opladen und Schlebusch wurden schwer von der Hochwasser-Katastrophe getroffen.

Leverkusen – Keine zwei Wochen bevor eine Chemie-Explosion Leverkusen im Mark erschüttert, überrollt eine erste Katastrophe das Rheinland und trifft auch Opladen und Schlebusch schwer. Am 14. und 15. Juli fällt in Leverkusen Regen in einem Ausmaß, das selbst extremste Prognosen übersteigt. In 24 Stunden fallen100 bis 150 Liter pro Quadratmeter. Ein Jahrtausendhochwasser ist die Folge. Wupper, Dhünn und auch der ach so kleine Wiembach werden zu schnellenden Strömen, die tiefe Wunden in Leverkusen reißen.

Das Einsatzprotokoll

Die Feuerwehr beginnt am Morgen des 14. Juli einen Einsatz, der zehn Tage lang andauern wird. Einen Monat nach der Flut berichtet der Feuerwehrmann Tim Kipshagen im Stadtrat davon: 1528 Einsätze werden dokumentiert, 20 Personen aus Lebensgefahr gerettet. Der Wupperpegel steigt von unter einem auf 4,55 Meter. Die Dhünn schwillt von gerade einmal 30 Zentimeter auf 3,45 Meter an – Hochwasser gilt ab 1,30 Meter.

Hausrat Flut Leverkusen

Komplette Wohnungen mussten entrümpelt werden. Was vorher ein Wohnzimmer war, war nach der Flut nur noch Sperrmüll.

Viele Menschen sind auf die große Gefahr, die Leib und Leben ebenso droht wie Hab und Gut, überhaupt nicht vorbereitet. Starke Regenfälle sind angesagt, ja, aber eine Flutwelle nicht. Erst um 20.48 Uhr löst die Feuerwehr die Warn-App „Nina“ aus. Ein zweites Mal, als um 3.51 Uhr eine weitere Wupper-Welle in die Stadt schwappt. Am 16. Juli ist das Wasser wieder weg, das Chaos bleibt – und die Aufräumarbeiten und der Wiederaufbau beginnen.

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Die Tausenden Schicksale

Die Wucht des Hochwassers kann mit Pegelständen nur unzureichend beschrieben werden. Greifbar wird sie erst, wenn der Fokus auf die vielen Tausend Einzelschicksale gerichtet wird.

Da sind zum Beispiel 468 Patientinnen und Patienten, die in einer Hauruck-Aktion aus dem Klinikum in Schlebusch evakuiert werden müssen, weil die Stromversorgung komplett lahmgelegt ist. Da sind Menschen, die Familienfotos aus mehreren Leben in den Fluten für immer verlieren. Kinder, die nun noch für lange Zeit weite Schulwege auf sich nehmen müssen – ihre Klassenzimmer werden teilweise erst 2023 wieder fertig gestellt. Viele von ihnen können keinen Schulsport mehr machen, weil Turnhallen volllaufen.

Flutschäden Remigiusschule

Auch in der Remigiusschule in Schlebusch stand das Wasser.

Einigen Kindern fehlen wichtige soziale Anlaufpunkte, weil Jugendtreffs wie der Lindenhof zerstört sind. Pflegebedürftige Seniorinnen und Senioren müssen raus aus ihrem Wohnumfeld und in Containern hausen. Da sind Männer und Frauen, deren verschlammte Kleidung aus Schränken im Erdgeschoss nur noch in den Müll wandern kann. Dutzende müssen ihre Wohnung von einem auf den anderen Tag aufgeben.

Auf der A1 können sich manche gerade noch aus ihren Autos retten, bevor diese geflutet werden. Einige werden in den Tagen nach der Katastrophe Opfer von Plünderern, die durch die Straßen ziehen. Manchem Ladenbesitzer bleibt in vielen Fällen nichts anderes übrig, als Ware und Mobiliar restlos zu entsorgen – immer begleitet von der bangen Frage, wie es denn nun weitergehen soll.

Bundeswehr Flut Opladen

Die Bundeswehr war nach der Flut mit 200 Soldatinnen und Soldaten in Leverkusen im Einsatz.

Liebevoll gepflegte Kleingärten werden in kürzester Zeit verwüstet – und nicht alle haben die Kraft, sie wieder herzurichten. Aus vielen Wohnungen tragen die Leverkusenerinnen und Leverkusener Sperrmüll, der einmal ihr Wohnzimmer war. In manchen Häusern stehen auch heute noch die Bautrockner. An ein normales Leben wie vor der Juli-Flut ist für Viele noch lange nicht zu denken.

Dass aber nicht ein Menschenleben in Leverkusen den Wassermassen zum Opfer fällt, ist ein großes Glück.

Die helfenden Hände

Und es gibt noch weitere Lichtblicke im Dunkel der Flut. Viele, viele Menschen packen überall mit an und räumen auf. Wer in den Tagen nach der Flut Hilfe benötigt, erhält Hilfe. Die Altstadtfunken sind mit einer Gulaschkanone unterwegs und versorgen die Flutopfer mit warmem Essen. 200 Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr helfen, Wohnungen zu entrümpeln und Schlamm aus den Kellern zu schleppen. Privatleute bilden in Häusern von Fremden eifrig Menschenketten, stemmen Wände, reißen durchnässte Teppiche vom Boden oder leisten seelische Unterstützung, indem sie einfach da sind und zuhören.

Flut Käfer Leverkusen Opladen

Nach der Flut: Der VW Käfer wurde in Opladen vom Wiembach und Wupper geflutet.

Nachbarn sitzen abends bei Kerzenschein zusammen und erzählen sich von der Gewalt des Erlebten. Fußball-Ultras packen an, wo sie nur können, Feuerwehrleute lassen ihre Pumpen zurück, als sie weitermüssen, andere schrubben mit Zahnbürsten Schlamm von Legosteinen. Alleine bei der Bürgerstiftung Leverkusen gehen mehr als 1,5 Millionen Euro ein, die in Form von Hilfsgeldern an Betroffene der Hochwasser-Katastrophe weitergeleitet werden.

Die Liste könnte lange weitergeführt werden. Fest steht: Wer mit den Menschen im Flutgebiet heute spricht, hört immer wieder Loblieder auf die vielen Helferinnen und Helfer. Jene Menschen, die da waren, als anderen das Zuhause genommen wurde. Der Zusammenhalt in Leverkusen war und ist stark, wenn es drauf ankommt, zeigt diese Erfahrung.

Die teuren Schäden

Wie teuer der Wiederaufbau für Privatleute ist, ist nur schwer zu ermitteln. Wer keine Elementarversicherung für Hochwasserfälle hatte, kann immerhin darauf hoffen, dass der Staat unterstützt: 12,3 Milliarden Euro stehen in NRW für Kommunen, Privathaushalte und Unternehmen bereit.

Ein Teil davon wird auch an die öffentliche Hand in Leverkusen fließen. Die Behebung der Schäden an städtischen Gebäuden wird teuer: 59 Millionen Euro, lauten die aktuellen Prognosen. Mit 33 Millionen Euro wird der Wiederaufbau der Theodor-Heuss-Realschule den Löwenanteil kosten.Die Sanierung des Bildungszentrums Naturgut Ophoven wird wohl neun Millionen Euro kosten. Hier stand das Wasser rund 1,50 Meter hoch. Die Instandsetzung des Lindenhofs wird weitere 6,6 Millionen Euro verschlingen. Hinzukommen auch noch 50 Millionen Euro bei den städtischen Tochtergesellschaften, 40 davon alleine für das Klinikum.

Die offenen Fragen

Offene Fragen gibt es viele. Zum Beispiel jene nach der tatsächlichen Höhe des finanziellen Ausgleichs durch das Land. Bleibt Leverkusen auf Millionenkosten sitzen, die über lange Zeit abgetragen werden müssen?

Es stellt sich auch die Frage nach der Rolle des Wupperverbandes bei der Entstehung der Katastrophe. Ließ der Verband seine prall gefüllten Talsperren zu spät und also kaum kontrollierbar ablaufen, sodass es zur zerstörerischen Wupper-Flutwelle kam? So sehen es einige Betroffene, die klagen wollen. Der Wupperverband widerspricht, will nicht zur Verschärfung der Situation beigetragen haben.

Hochwasser in Schlebusch

Ein Wohnhaus in Schlebusch am Tag nach der Flut

Offen ist auch, wie einzigartig die Flut nun tatsächlich war und bleiben wird. Auch hier tritt der Wupperverband auf den Plan und spricht erneut aus, wovor Klima- und Umweltexperten schon länger warnen: Das nächste Jahrtausendhochwasser wird keine 1000 Jahre warten, um sich zu wiederholen. Auf jeden Fall sollen dafür Vorkehrungen getroffen und größere Überflutungsräume geschaffen werden, die Hochwasser in sensiblen Bereichen abmildern. Auch sollen Deiche an Dhünn und Wupper erhöht werden.

Zu früh ist es derzeit noch, um bewerten zu können, wie schnell die Stadt ihren Willen zum stärkeren Hochwasserschutz in Taten übersetzen kann – und wie radikal sie den Schutz vor einem neuerlichen Flutereignis, so außergewöhnlich es auch war, am Ende tatsächlich über anderweitige Interessen stellt. Wird sie etwa auf die Bebauung von Flächen verzichten, wie es die Bezirksregierung in ganz konkreten Fällen vorgeschlagen hat? Das ist noch nicht klar.

Fest steht jedoch ohne Frage: Die Menschen, die am 14. und 15. Juli vom Hochwasser überrumpelt wurden, viel verloren haben und nichtsdestotrotz wieder aufgestanden sind, werden künftig keine Kompromisse beim Schutz ihres Zuhauses dulden.

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