Interview mit Marienheider Psychiater„Echte Freunde trifft man nicht im Internet“

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Bodo K. Unkelbach ist Chefarzt des Marienheider Zentrums für Seelische Gesundheit und Autor. Reiner Thies sprach mit ihm über sein neues Buch „Freundschaft – Der Weg zum guten Leben“.

Wie viele enge Freunde haben Sie selbst? Und wie haben Sie sie gefunden?

Ich habe vier bis fünf Freunde, die mir sehr nahe sind und die ich größtenteils seit der Schul- und Studienzeit kenne. Darunter sind Freundschaften, die auch mal längere Zeit vor sich hinschlummern, bis sich aus einer Lebenswende ein neuer Kontakt ergibt. Wegen meines Berufs meldet sich mancher bei mir, wenn er Eheprobleme hat. So wie ich mich melde, wenn ich eine Motorsäge ausleihen will.

Heißt das, dass irgendwann der Punkt im Leben erreicht ist, an dem man keine neuen Freunde mehr findet?

Das glaube ich nicht. Die gemeinsame Jugenderfahrung schweißt zusammen, ist aber keine zwingende Voraussetzung. Freundschaft ist ein lebenslanger Prozess. Es gibt immer neue Berührungspunkte. Wenn man Kinder hat, lernt man andere Eltern kennen. Oder es gibt den Verein oder die Kirchengemeinde. Sogar im Altenheim können neue Freundschaften entstehen. Es ist eine Frage der Offenheit.

Ist etwas dran an dem Klischee, dass Frauen eine sehr enge, „beste“ Freundin haben, mit der sie sich früher oder später überwerfen? Und Männer viele lange Freundschaften pflegen, die aber bloß oberflächlich sind?

Frauen teilen auch sehr persönliche Dinge miteinander, Männer kommunizieren eher themenbezogen. Das sagt aber nichts darüber aus, wie belastbar eine Freundschaft in einer Notlage ist. Ich habe einen Freund, den ich nur einmal im Jahr treffe, wenn wir mit einer Gruppe wandern gehen. Aber wenn wir uns sehen, ist der Draht sofort wieder da.

Sie schreiben im Untertitel ihres Buchs vom „Weg zum guten Leben“. Sie empfehlen eine freund(schaft)liche Praxis im Umgang mit allen Mitmenschen. Sind Freundschaften also weniger Glücksache als ein logischer Erfolg der Lebensführung?

Glück ist ein Faktor. Aber es gilt: Man kann sein Leben aktiv gestalten. Wenn man viele Leute kennt, wird man früher oder später auch denjenigen finden, der zu einem passt. Viele unserer Patienten hier in Marienheide haben damit große Probleme. Manche erwarten beispielsweise nicht, dass jemand, der gern über andere schlecht spricht, irgendwann auch schlecht über sie selbst sprechen wird. Sie verfügen nicht über die Geduld, sich Zeit zu nehmen und Vertrauen wachsen zu lassen. Wer in großer seelischer Not ist, neigt dazu, neue Freunde zu überfordern.

Sie schreiben in Ihrem Buch, dass die Freundschaft eine Variante der Liebesbeziehung ist. Ist Liebe nicht mehr als Freundschaft?

Der allerbeste Freund sollte immer der Partner der Paarbeziehung sein. Natürlich hat eine Paarbeziehung eine ganz andere Intensität. Man arbeitet an einem gemeinsamen Lebensplan. Es ist eine exklusive Beziehung. Das sollte bei Freundschaften nicht der Fall sein. Da sollten auch andere Freunde Platz haben. Aber es gibt auch sehr große Überschneidungen. Beides ist verbunden mit Empathie, Verständnis, Treue und Genuss an der Anwesenheit des Anderen.

Können Freundschaften ein funktionierendes Familienleben ersetzen? Und eine erotische Liebesbeziehung?

Nein, sicher nicht. Aber Freunde können eine Paarbeziehung als Ergänzung stabilisieren. Wenn man nicht gern dabei zusieht, wie die Rennautos auf dem Nürburgring ihre Runden drehen, kann man den Partner mit seinem Freund losziehen lassen. Bei einer echten Ehekrise sollte man das Problem einem Paartherapeuten überlassen. Freunde kommen dann an einen Punkt, an dem sie nichts mehr ausrichten können.

Ihr Buch endet mit einem „Medienknigge“, der helfen soll, analoge Freundschaften im digitalen Zeitalter zu bewahren. Macht das Internet die Freundschaft kaputt?

Meine Tochter hat mir von zwei Mädchen erzählt, die nebeneinander in der Bahn saßen und wortlos auf ihren Handys rumtippten. Als die eine ausstieg, verabschiedete sie sich mit: „Wir schreiben uns.“ Ich glaube, dass sich auf dramatische Weise verändert hat, wie die Menschen Beziehungen gestalten. Die sozialen Medien sind nützlich, wenn man seine zwischenmenschlichen Kontakte damit ergänzt, gerade auf größere Distanz. So war es einmal gedacht. Schwierig wird es, wenn die Beziehung ganz auf den digitalen Kanal verlegt wird. Die Jugendzeit ist eine Phase, in der sich der Mensch enorm weiterentwickelt und seine interaktiven Fähigkeiten ausbildet. Zugleich ist es eine Zeit der Verunsicherung. Nur in der echten Kommunikation in der Gruppe lernt man durch Rückmeldung, wie man erfolgreich kommuniziert. Ich persönlich verzichte auf Kritik in schriftlicher Form, sondern suche lieber den direkten Kontakt. Per Mail gebe ich nur positive Rückmeldungen.

Gibt es einen gesellschaftlichen Trend zur Vereinsamung?

Den gibt es bestimmt, das lässt sich schon an der steigenden Zahl von Singlewohnungen ablesen. Für uns Suchttherapeuten ist die Internetabhängigkeit ein Riesenthema, die Zahl der Betroffenen nimmt rasant zu. Diese Entwicklung wird unsere Gesellschaft nachhaltig beeinflussen.

Haben Sie bei Ihren Gedanken über die Freundschaft mehr aus Ihrer privaten Lebenserfahrung oder mehr aus Ihrer beruflichen Praxis geschöpft?

Es ist eine Mischung. Für einen Teil meiner Patienten ist es eine nicht zu leistende Herausforderung, tragfähige Beziehungen aufzubauen, was zu Depression und Sucht führt. Ihnen fehlt das soziale Netz. Ich selbst bin ein Mensch, der Freundschaften pflegt. Als Psychiater und Psychotherapeuten müssen wir nicht nur die Krankheiten verstehen, sondern auch eine Vorstellung davon haben, was gesund ist, was funktioniert und wie man gut lebt.

Warum haben Sie dieses Buch geschrieben?

In meinem ersten Buch ging es um Selbstliebe, also um die Beziehung, die man zu sich selbst hat. Nun folgt als logische Ergänzung ein Buch über die Beziehung zu anderen. Das sind die beiden zentralen Themen der Psychiatrie. Ich würde gern junge Menschen erreichen, die in ihrem Leben die Weichen stellen. Sie sollen Fehler vermeiden und bestimmte Sackgassen gar nicht erst ansteuern.

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