„Wer darf sich noch Gamer nennen?“Bonnerin forscht zu Videospielen und spricht über die Gamescom

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Medienwissenschaftlerin Katja Aller steht vor ihrem Bücherregal.

Katja Aller forscht am Cologne Game Lab zu narrativen Strukturen in Videospielen. Ein Gespräch über Games, die Stadt und die Gamescom.

Katja Aller arbeitet und forscht am Cologne Game Lab und spricht auf der Gamescom 2023. Ihre Sicht auf die Messe und die Branche.

„Köln ist relevant, definitiv!“, versichert Katja Aller, als sie nach der Relevanz des Gaming-Standorts gefragt wird. „Also Köln ist natürlich vor allen Dingen auch relevant, weil da die Gamescom stattfindet und weil die Gamescom mittlerweile die größte Videospielmesse der Welt ist“, erklärt sie. „Und wir haben außerdem einige wichtige Entwicklerstudios und Ausbildungsinstitutionen in Köln.“

Darunter vor allem das Cologne Game Lab der Technischen Hochschule Köln (CGL), an dem Aller arbeitet. Sie ist Studiengang-Managerin für den Master „Game Development and Research“, kommt aus Kerpen, lebt und studierte in Bonn und Schottland und spricht am Donnerstag auf dem Gamescom Congress in Köln.

Warum muss ich dieses Klischee hier jetzt schon wieder spielen, das hab ich doch alles schon tausendmal gesehen.
Katja Aller, Studiengangmanagerin am Cologne Game Lab

Aller organisierte den Workshop „Female Figures: Matters of Representation, Industry and Community in Games“ („Weibliche Figuren: Fragen der Repräsentation, Industrie und Gemeinschaft in Spielen“), bei dem sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer mit weiblich gelesenen Charakteren in Spielen, aber auch in der Spiele-Branche auseinandersetzen werden. Welche Geschichten werden über Frauen erzählt, welche Räume nehmen sie ein und was kann dagegen unternommen werden, dass in Deutschland, wo die Gamingszene laut Aller je etwa zur Hälfte aus Männern und Frauen besteht, trotzdem hauptsächlich Männer in den Entwicklerstudios arbeiten?

„Es gibt mittlerweile zum Glück viele gute Beispiele“, bringt Aller an. Aber „man fragt sich, warum muss ich dieses Klischee hier jetzt schon wieder spielen, das hab ich doch alles schon tausendmal gesehen.“ Um ein Spiel zu entwickeln, in das sich Menschen unabhängig von ihrer Geschlechtsidentität hineinversetzen können, sei es notwendig, die verschiedenen Perspektiven schon in der Entwicklung dabei zu haben.

Walking Simulator: Das Gegenteil von Battlefield, Counter Strike oder Half Life

„Medien sind ja immer Produkte, die von Menschen gemacht sind. Wir setzen da unsere eigenen Erfahrungen rein, unsere eigenen Präferenzen. Games sind Kunstwerke, und in Kunstwerke bringen wir immer sehr viel von uns selbst ein.“ Zusammengefasst: Wie sollen Geschichten über weibliche Charaktere facettenreich und glaubwürdig für die Spielerin sein, wenn niemand mit den entsprechenden Erfahrungen sie geschrieben hat? „Man kann ja auch einfach selten aus seiner eigenen Haut raus. Deswegen sind neue Perspektiven so wichtig.“

Aller selbst forscht zu Narration in Videospielen, aktuell für ihre Dissertation. Für ihre Arbeit mit dem Titel „The Narrative Capacities of Spaces and Objects in Walking Simulator Games“, also etwa „Die narrativen Kapazitäten von Räumen und Objekten in Geh-Simulator-Spielen“, betrachtet sie ein Genre – „Ich tue mich immer ein bisschen schwer mit dem Begriff Genre“ –, das wie kaum ein anderes den Spielenden ermöglicht, die Perspektive der Entwicklerinnen zu teilen. Entstanden ist es 2012 aus einem Ego-Shooter. Walking-Simulator-Spiele sind aber quasi das Gegenteil von Counter Strike, Battlefield und Co.

Dear Esther, What Remains of Edith Finch: Spiele über Gefühle

„Dear Esther“, der Vorreiter des Genres, startete 2008 als Mod (also als technische Modifizierung eines bestehenden Spiels) vom Shooter „Half Life 2“. 2012 veröffentlichte das britische Entwicklerstudio „The Chinese Room“ (wohl in Anlehnung an ein bekanntes philosophisches Gedankenexperiment von John Searle) das Erzählexperiment als eigenständiges Spiel. „Der Entwickler hat dann alles weggenommen, was den Ego Shooter zum Ego Shooter gemacht hat – außer der Perspektive“, erklärt Aller. In diesen Spielen geht die Spielerin mehr oder weniger langsam durch eine Spielwelt und kann kaum mit der Umwelt interagieren.

Die Geschichte entfaltet sich allein durch die Betrachtung der Spielwelt und ihrer Gegenstände. Keine Gegner zu bekämpfen, oft nicht einmal Rätsel, die gelöst werden müssen. „Die Rätsel, die finden im Prinzip zwischen Spielwelt und Spielerinnen statt. Es geht bei diesen Spielen um Wahrnehmung, es geht um Emotionen, Fühlen und Mitfühlen. Und es geht natürlich um das Leben in dieser Erzählung. Manchmal natürlich mit Monologen, oder man findet irgendwelche Bücher, die man lesen kann.“

Wer darf sich dann noch Gamer nennen?
Katja Aller

Spiele wie „Dear Esther“ oder „What Remains of Edith Finch“, 2017 ebenfalls bei einem Indie-Studio erschienen, zwangen die Szene dazu, sich Fragen über ihre eigene Definition zu stellen. „Das lässt sich schlecht gatekeepen, auf gut Deutsch gesagt.“ Gatekeepen, also etwa Türstehen, ist in der Szene ein bekannter Begriff. Er beschreibt den Konflikt zwischen Anhängerinnen und Anhängern einer Gruppe, die festlegen wollen, wer Teil einer Gemeinschaft werden kann und wer nicht. Oft sind das arbiträr gesetzte Standards: „Oh ja, du magst ACDC? Nenn mir zehn ihrer Songs außer Highway to Hell!“

So auch unter Spielerinnen und Spielern: „Wenn plötzlich jeder dieses Spiel spielen kann, weil man eben nicht mehr schnell auf Knöpfe drücken muss oder sich irgendwelche Tastenkombinationen ganz schnell merken muss und man das Spiel nicht mal mehr gewinnen kann. Wer darf sich dann noch Gamer nennen?“, erklärt Aller. In der Tat sind vor allem die Indie-Spiele, also Titel, die nicht von den großen, etablierten Studios produziert werden, die heimlichen Stars der Gamescom.

Gamescom 2023 in Köln: Der Trend geht immer mehr zu Indie

Mehr als 1530 Quadratmeter nimmt die Indie Arena Booth auf der Messe dieses Jahr ein, 148 Spiele werden präsentiert. Sony beispielsweise zog sich schon vom Messegelände zurück, tatsächliche Ankündigungen werden von den großen Studios lieber im Live-Stream-Format aus dem eigenen Haus vorgestellt. Möglicherweise beschleunigt durch die Pandemie geht der Trend also runter von der Gamescom-Bühne für die großen Häuser.

„Ich könnte mir vorstellen, dass sich die Demografie der Publisher verändert“, vermutet auch Aller. Sie selbst freut sich auch besonders auf den Besuch in der Indie-Arena: „Natürlich gucke ich zuallererst auf die Stände von unseren Cologne Game Lab Studierenden.“ Zum Beispiel das Spiel „Tiny Book Shop“ von CGL-Alumni Raven Rusch, David Wildemann, Maurice Andreas und Charlotte Zapfe. „Ansonsten schaue ich natürlich, ob ich vielleicht den einen oder anderen neuen Walking Simulator finde, den ich noch nicht kenne.“

Blizzard, Sony, Nintendo: Große Studios weniger attraktiv als Arbeitgeber

Die Bewegung zu Indie sieht Aller auf allen Ebenen der Branche. Nicht nur auf der Konsumenten-Seite, auch in ihrem eigenen Studiengang verändern sich die Perspektiven der Studierenden. Im vergangenen Jahr habe sie noch häufiger gehört, dass die angehenden Entwicklerinnen und Entwickler sich eine Zukunft bei den großen Studios erhofften, von der Arbeit an sogenannten Triple-A-Titeln träumten. In diesem Jahr allerdings habe sie das kaum noch gehört.

Stattdessen sei das Sentiment eher: „Also wenn dann Indie, wir haben eigentlich keine Lust auf die oft leider schlechten Arbeitsbedingungen in großen Studios.“ Stichwort „Crunch“: Viele Entwicklerstudios standen und stehen teilweise immer noch wegen schlechten Arbeitsbedingungen, ausbeuterischen Praktiken, sexueller Belästigung und Diskriminierung in der Kritik. Umso wichtiger also, dass sich die nächste Generation der Spieleentwicklerinnen und -entwickler für sichere Räume für alle einsetzt. Sowohl in den Spielen, als auch in den Communitys der Spielenden und der Entwickelnden. Vor, hinter und auf dem Bildschirm, quasi.

Doch keine 70 Millionen für Games-Förderung von der Bundesregierung

Und genau das soll im Workshop diskutiert werden. In vergangenen Jahren habe der noch im Rahmen einer vom CGL veranstalteten Konferenz stattgefunden, so Aller. In diesem Jahr haben dafür aber die Gelder nicht mehr gereicht. Zwei Teilnehmerinnen aus dem vergangenen Jahr leiten am Donnerstag, ab 13.30 Uhr, die Arbeitsgruppe, die auf dem Gamescom Congress erstmal „ein neues Zuhause gefunden hat“, so beschreibt es Aller.

Die meisten Absolventinnen und Absolventen ihres Studiengangs wollen selbst einmal gründen, so die Studiengangmanagerin. Aller, die selbst einen Master in vergleichender Literaturwissenschaft hat, beschreibt ihre Studierenden als einen „schönen, bunten Haufen“. Das mit dem Gründen funktioniere auch oft ganz gut, sagt sie. Die Nachricht, dass die Bundesregierung jetzt aber doch keine 70 Millionen Euro, sondern nur 50 Millionen für die Games-Förderung investieren wolle, habe viele kleine Studios jedoch hart getroffen.

Das ist natürlich ein meeting place für alle!
Katja Aller

„Das ist dann halt tragisch, weil natürlich Games mittlerweile ein wichtiger Wirtschaftsfaktor sind. Nicht nur für Köln, auch für ganz NRW und den Rest der Welt“, so Aller. Und Deutschland habe ohnehin noch deutlichen Aufholbedarf in Sachen digitaler Infrastruktur. Als ersten und wichtigsten Punkt nennt die Wissenschaftlerin etwa den Internetausbau. Nicht nur fehle der freie Zugang zum Internet – „im Vergleich zum Beispiel Skandinavien, wo jeder Bus frei zugängliches, schnelles WLAN hat“ – es sei auch nicht überall schnelles Internet überhaupt verfügbar.

In den Deutzer Hallen ist die Digitalisierung derweil unzweifelhaft angekommen. Aller freut sich schon auf den Start des offenen Teils der Messe. Und nicht nur wegen der Indie-Spiele: „Da sehe ich einige Kolleginnen und Kollegen, die ich tatsächlich ganz oft nur einmal im Jahr im Rahmen der Gamescom sehe. Also der Terminkalender ist voll, mit Treffen und Kaffee trinken und Hallo sagen. Dafür ist die Gamescom halt auch super, wenn man irgendwie mit der Gamesbranche zu tun hat. Das ist natürlich ein Meeting place für alle!“

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