Frauenhaus in NRW79-Jährige flüchtet nach 57 Jahren Ehe vor gewalttätigem Mann

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Nach 57 Jahren ist Annemarie aus einer von Gewalt geprägten Beziehung ausgebrochen.

  • Die der Polizei bekannt gewordenen Fälle von häuslicher Gewalt sind in NRW im vergangenen Jahr um 5,5 Prozent im Vergleich zu 2020 gestiegen. Die große Mehrheit der Opfer (69,1 Prozent) war weiblich.
  • Nach Angaben von Innenminister Herbert Reul gibt es in NRW 62 Frauenberatungsstellen, 64 Frauenhäuser und 52 Fachberatungsstellen speziell gegen sexualisierte Gewalt, wo betroffene Frauen Hilfe finden können.
  • In einem dieser Frauenhäuser kam auch Annemarie unter. Die 79-Jährige ist nach 57 Jahren Ehe vor ihrem gewalttätigen Mann geflohen. Sie sagt: „Am Ende des Jahres wäre ich ein Krüppel gewesen – oder tot“

Nordrhein-Westfalen – Zwei Plastiktüten hat Annemarie mitgenommen, als sie vor wenigen Wochen ihren gewalttätigen Mann verließ. Zwei Plastiktüten mit wenigen Habseligkeiten sind der demnächst 80-Jährigen, für die diesmal ein geänderter Vorname genügen soll, geblieben von einem Leben, das 57 Jahre lang von der Gewalt ihres Ehemanns bestimmt war.

„Ich habe Hoffnung“, sagt sie heute: In einem Frauenhaus im Rheinland hat sie Zuflucht gefunden, demnächst wird sie in eine Senioren-WG ziehen.

Immer wieder schlug der Ehemann zu

Immer wieder hat Annemaries Mann sie brutal geschlagen, sie mit dem heißen Bügeleisen verletzt, ins Gesicht getreten. „Am Ende des Jahres wäre ich ein Krüppel gewesen“, erzählt sie. „Oder tot.“ Eine unter Tritten gebrochene Hüfte macht ihr zu schaffen, häufige Schläge ließen das Trommelfell platzen. Trotzdem blieb sie bei ihm, „ich war ja nix anderes gewohnt“. Als jüngstes Kind einer großen Familie gehörten Armut und Gewalt schon früh zu ihrem Leben.

„Ich war ja kein Mensch mehr, habe nur noch gedacht und gehandelt wie er“, sagt sie im Rückblick auf die vergangenen Jahrzehnte. Sie hat die Schuld auf sich genommen, wenn die Kinder „Fehler“ gemacht hatten, und all das vor ihrer Umwelt zu verstecken versucht. „Ich wollte nicht, dass jemand weiß, was bei uns los ist.“

17 Jahre lang hat sie den Sohn nicht gesehen

Immer wieder hat Annemarie während all der Jahre an Flucht gedacht – und es doch immer wieder aufgeschoben. Obwohl sich nach und nach alle Verwandten abgekehrt hatten. „Du bist immer willkommen“, hatten sie ihr gesagt; „aber nicht, wenn er mitkommt.“

Die Familie war es dann aber schließlich, die sie bei der Nachbarin abholte, wohin sie sich geflüchtet hatte, darunter der Sohn, den sie 17 Jahre lang nicht gesehen hatte, und eine Tochter, von deren beruflichem Erfolg sie stolz erzählt. „Sie haben mich abgeholt, und dann ging die Fahrt in die Nacht“, beschreibt sie die Flucht ins Rheinland.

Manchmal hört sie den Mann noch rufen

Die Familie ist es, die ihr hilft, einen neuen Anfang zu wagen, therapeutische Gespräche im Frauenhaus tun das ihre dazu. Manchmal hört sie noch ihren Mann rufen, „man kann es nach 57 Jahren nicht einfach abstreifen“. Jetzt hat sie einen Brief an ihn abgeschickt, „und ihm erklärt, worum es ging“. Drei Wochen hat sie über den Zeilen gesessen, doch nun ist die Post unterwegs „und ich bin froh“.

Mit fast 80 Jahren erkundet Annemarie nun eine für sie neue Welt. „Ich hatte Angst, Straßenbahn oder Bus zu fahren.“ Statt des alten Holzherdes steht ein Induktionsherd in dem barrierefreien Appartement. „Ich schaff’ ja alles“, hat sie festgestellt. Und die Verwandten sagen zu ihr: „Du bist jetzt du.“

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