Flucht nach MeckenheimSascha musste Mann, Mutter und Oma in Ukraine zurücklassen

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Zerstörung in der Nähe eines Krankenhauses in Schytomyr vom 2. März.

Meckenheim – Drei Stunden lang hat Oleksandra S. von ihrem Heimatort Schytomyr auf der Flucht vor russischen Angriffen bis zur Grenze nach Polen gebraucht, dann nochmals 17 oder 18 Stunden, um die Grenze zu passieren, während ihre erst zweieinhalb Jahre alte Tochter in der langen Warteschlange weinte. Der Saft und die mitgebrachten Nüsse waren alle, Mutter, Oma und Mann zurückgelassen, vor ihr das Ungewisse.

In den beiden Koffern, die sie am 7. März für sich und ihre kleine Tochter so hektisch gepackt hatte, dass von einem Paar Schuhe einer fehlt, steckt alles, was sie für das Leben in nächster Zeit in Meckenheim braucht. Denn hier ist die Tanzlehrerin aus der Ukraine zunächst bei einer Freundin, in der Ferienwohnung von deren Schwiegereltern, untergekommen.

Einige Meckenheimer kennen sie bereits. Sie war die Frau, die bei der Demonstration vor dem Rathaus in ergreifenden Worten, eingehüllt in eine ukrainische Fahne, von ihrer Flucht und vom Krieg berichtete – trotz des riesigen Bammels, den sie hatte, weil sie Deutsch zuletzt vor acht Jahren im Studium gesprochen hat. Gelernt hatte sie es, weil der Stiefvater, ein deutschstämmiger Jude, sie als Kind des öfteren mit nach Süddeutschland nahm.

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Lena (l.) hat ihre Schul- und Studienfreundin Sascha nach der Flucht aus der Ukraine zu sich nach Meckenheim geholt.

Oleksandra S., genannt „Sascha“, ist nun bei „Lena“, wie sie ihre Schulkameradin aus der neunten Klasse nennt, in Sicherheit. Mit ihr hat sie auch  im gemeinsamen Heimatort knapp 150 Kilometer westlich von Kiew  einst auf Lehramt studiert – Sascha damals Deutsch, Lena Englisch. Mit zwei Cousinen von Lena waren die beiden Fluchtwagen bis Krakau gekommen. Dort hat Lena sie abgeholt.

Jeden Tag telefoniert Sascha – dank des Satelliten-Netzes Starlink – mit ihrem Mann, der als Berufssoldat, wie zuvor bereits sein Vater, seit Jahren den militärischen Aktionen Russlands an den Landesgrenzen im Osten begegnet. Dabei berichtet sie auch von der Tochter Paulina. Erst wenige Wörter kann die Kleine, aber es sind solche wie „fliegen Flugzeuge“ und „Bombe“. „Ich glaube, sie braucht psychologische Hilfe“, findet Sascha. Von ihrem Mann weiß sie, dass gerade die Heimatstadt weiter stark beschossen wird.

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Zerstörung in der Nähe eines Krankenhauses in Schytomyr vom 2. März.

Sie hatte die Koffer gepackt während die Sirenen liefen und als nur vereinzelt schwere Einschläge vorkamen. Doch ihr Haus befindet oder befand sich direkt neben der Militärakademie – ein Ziel, das die Russen ganz sicher angreifen. Tagelang hatte sie die Flucht aufgeschoben, doch dann die Entscheidung getroffen: „Weil ich ein kleines Kind habe.“

Sie hat die Bilder von beschossenen zivilen Häusern und Toten gesehen und ist beunruhigt. Vor allem weil die Mutter (56) mit der demenzkranken Großmutter, die bereits 89 Jahre alt ist, zurückgeblieben ist. „Das ist eine Wunde in meiner Seele. Aber der Schwiegervater kümmert sich“, tröstet sie sich und seufzt: „Wir sind keine reichen Menschen und konnten sie nicht transportieren. Es gibt in der Ukraine auch keine Heime für Demenzkranke.“

Als Tanzlehrerin hatte sie eine eigene Schule. Sie organisierte Wettbewerbe, auch internationale. „Wir sind alle zweisprachig aufgewachsen und unterhalten uns untereinander in Russisch. Amtssprache ist Ukrainisch. Meine Mutter hat teils russische Wurzeln, der Vater stammt aus Polen und Ungarn, ist aber in der Ukraine geboren. Ich bin also Ukrainerin.“

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Eine Schule in Schytomyr, die Cousinen von Lena aus Meckenheim besuchten, ist am 4. März zerstört.

Die Erklärung fällt der jungen Mutter schwer. Es klingt wie eine Rechtfertigung, weil Putin alles in Frage stellt, was die Ukraine ausmacht und alles ukrainische zu nationalistisch-faschistischem oder gar nazistischem erklärt hat. Doch damit hat er nicht nur bei Sascha und Lena einen Nationalstolz geweckt, den die Ukrainer vielleicht vorher selbst nicht so empfunden hatten.  Nun gebe es jeden Tag Demonstrationen.

Sascha: „Aber gestern ist auf Demonstranten geschossen worden, und vor allem Frauen haben Angst auf die Straße zu gehen.“

Sascha stört sich an den Bildern, von denen sie überzeugt ist, dass Russland sie inszeniert hat: Von den Menschen, die angeblich russische Soldaten mit Blumen begrüßt hätten. Das seien Schauspieler. Und die russischen Flaggen an Amtsgebäuden: „Das haben die Soldaten gemacht.“ Auch das Referendum in der Ostukraine 2014 sei bloß inszeniert worden: „Hübsch fürs Auge“, wie sie sagt.

Liebe zur Ukraine blüht auf

Lena und ihr Mann informieren sich über das tägliche Geschehen vor Ort. „Was wir beobachten, ist ein unfassbares Vorgehen der russischen Invasoren. Wir verurteilen die immer weiter eskalierenden Gräueltaten an der Zivilbevölkerung.“ Lenas Mann ist im öffentlichen Dienst, was ihn davon abhalte, gleich in die Ukraine zu fahren und dort bei der Verteidigung zu helfen. „Er liebt die Ukraine.“ Eine Liebe, die sich auch in der Wohnung in Merl zeigt. Der Tischläufer ist ukrainische Handarbeit, die Tassen stammen aus Lemberg, wie sie sagt. Das ist der deutsche Name von Lwiw. Im Flur hängen Bilder aus konserviertem Islandmoos. „Das ist in der Ukraine gerade sehr modern“, schwärmt Lena.

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Es sind Momente, die an ein normales Leben erinnern. Ein Leben, das die beiden Freundinnen sich schnellstmöglich zurückwünschen. „Auch wenn der Wiederaufbau der Ukraine noch fünf oder sechs Jahre dauern wird. Aber Russland wird sie nie bekommen, und wir werden es den Russen nie vergessen, dass sie uns angegriffen haben. „Das ist kein Krieg, das ist Terrorismus. Wenn man zu tief in die Geschichte geht, dann wird man feststellen, dass die Russen uns Ukrainern sogar den Namen geklaut haben, denn die Wiege Russlands steht bei uns.“

Es ist Verbitterung, kein Hass, der da mitschwingt. Sie ist von Russland so enttäuscht wie von den Nachbarn. „Hier leben viele Deutschrussen. Sie schweigen gerade alle. Während die Deutschen sich alle freundlich erkundigen, wie es uns geht.“ Im russischen Supermarkt kaufen Lena und Sascha indes gerne ein: „Wir haben wohl bemerkt, dass alles, was an Putin erinnert, weggeräumt wurde und es Produkte aus der Ukraine gibt. Mögen Sie eigentlich Buchweizen?“  Der gestärkte Nationalstolz schwingt in jedem Wort mit.

Unterbringung

229 Flüchtlinge, vor allem aus Syrien, sind aktuell (Stand 18. März 2022) in Meckenheim untergebracht. Zusätzlich sind diese Woche etwa 80 Ukrainer bei Freunden oder Verwandten eingetroffen.

Noch muss die Stadt Meckenheim keine Ukrainer beherbergen. Sie baut weiterhin auf privat gestellten Wohnraum. 

Sascha und Lena wirken bei der Begrüßung mit. Sie Übersetzen bei Treffen mit Ankommenden und bereiten Informationstexte in ukrainischer Sprache vor. Die Texte stehen auf einer eigenen Internetseite der Stadt Meckenheim.

Wer bisher nicht wusste, dass Lena aus der Ukraine ist, kann es inzwischen an der Flagge im Fenster und den Aufklebern am Auto sehen. Die Flagge, die Sascha am Mikrofon vor dem Rathaus trug, hatte sie noch schnell im Internet gekauft: „Ich glaube, es war ein Restposten von der Fußballmeisterschaft.“ Wer den beiden zuhört, glaubt, dass sie selbst noch losziehen könnten, das Land zu verteidigen: „Vor den Tschetschenen haben wir keine Angst. Die haben nur Bärte, können aber nichts“, sagt Lena mit funkelnden Augen. Dabei ist sie bloß wütend. Eine Wut, die sie mit Sascha teilt, wenn die n-tv schaut und Bilder sieht, die den ukrainischen Regierungschef aus seiner Komikerzeit in High-Heels zeigen. „Er ist studierter Jurist und keine Witzfigur und hat es nun mit den schwierigsten Problemen zu tun.

Lena: „Die Ukraine ist 1991 frei geworden – als wir geboren wurden. Und das soll sie einfach bleiben. Das gebe ich auch an meine beiden Kinder weiter, und wir werden auch weiterhin den Unabhängigkeitstag feiern.“

Allerdings weiß sie noch nicht, wie sie ihrer kleinen Tochter, die gerade in die erste Klasse geht, abgewöhnen soll,  aus Spaß immer wieder „Putin, Ziegenbock“ in den Unterricht zu rufen.

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