„Weil es Sinn ergibt“Kölner Pilot hilft im Lockdown bei der Tafel

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Hendrik Maertin2

Maertin im Sprinter

  • Als Pilot ist Henrik Maertins Job-Perspektive sehr unsicher
  • Der Kölner hilft seit Jahresanfang bei der Tafel in Bergisch Gladbach
  • „Ich wollte irgendwas Sinnvolles tun“, sagt der 49-Jährige

Bergisch Gladbach – Die Aprilsonne legt sich wärmend auf die Mittagspause. Das Grau im Hinterhof wird zu Licht. Die Männer und Frauen sitzen draußen, die Masken unterm Kinn, um rauchen zu können. Zeit für einen lockeren Spruch. „Hier sehen Sie die Denkmäler der Arbeit“, sagt jemand lächelnd. Namentlich genannt werden, will hier keiner so gerne. Ehrensache, heißt es auf Nachfrage. Wenn überhaupt, gehört es zum guten Ton, nicht sich selbst, sondern die anderen zu loben, die bei der Tafel in Bergisch Gladbach arbeiten. Schon lange und immer noch, Corona zum Trotz.

Mittendrin ein Neuer: Henrik Maertin findet das Ganze umso bemerkenswerter:  „Mit welchem Einsatz sich hier alle einbringen, hat mich unglaublich beeindruckt.“ Früher ist der Kölner oft an dem Gebäude vorbeigefahren, ohne zu wissen, was einige Meter weiter passiert. Kiloweise Lebensmittel werden in der Halle täglich sortiert, geputzt und ausgegeben. Seit Anfang des Jahres nun biegt er regelmäßig in diese andere Wirklichkeit ein. „Es öffnet sich sofort ein ganz neuer Kosmos“, sagt er. „Ich wusste nicht, wie einfach es ist, ein Teil davon zu werden. Von einem Tag auf den anderen.“ Dafür müsse man sich nur minimal bewegen.

Die Pause schien vorübergehend

Der 49-Jährige ist einer von Tausenden in Deutschland, die gerade nicht in ihrem Beruf  arbeiten können. Seit 1997 ist er Pilot und als er im ersten Lockdown am Boden bleiben musste, war er noch ohne Sorge.  „Es schien ja alles vorübergehend“, sagt er. „Die ersten Wochen habe ich genossen, das Wetter war super.“

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Maertin liebt alles, was mit Sport zu tun hat. Fahrradfahren, Tennis und Fußball. Als sich abzeichnete, dass sich seine Situation vorerst nicht ändern, sein Job auf dem Spiel stehen könnte, machte sich Unruhe breit. Jetzt ein Jahr später ist nur eines klar: Es gibt einen zeitlich befristeten Kündigungsschutz. Bis März 2022.

„Ich wollte irgendetwas Sinnvolles tun.“

Auf diese Nachricht reagiert jeder anders, hat Maertin beobachtet. Manche halten still, manche jobben oder bewerben sich  woanders. Andere suchen sich erstmal eine Aufgabe. So wie Maertin. „Ich wollte irgendetwas Sinnvolles tun.“ Maertin blinzelt in die Sonne. Weil er nicht anmaßend klingen will, wendet er schnell ein: „Es gibt Menschen, die sind derart von der Pandemie betroffen, dass sie natürlich nicht an ein freiwilliges Engagement denken können.“

Aber dann gibt es Menschen, denen es gut geht. „Dazu gehöre ich.“ Er nutze die Lage, um sich zu beschäftigen, sich abzulenken und etwas zurückzugeben. „Wann bekommt man schon eine so gute Chance, etwas fürs Gemeinwohl zu tun?“

Vor der Pandemie wäre er gar nicht auf die Idee gekommen

Henrik Maertin hat wie viele andere das Ehrenamt erst in der Pandemie entdeckt. Er wäre vorher gar nicht auf die Idee gekommen. Jetzt ist er einer von rund 30 Millionen Deutschen, die sich regelmäßig oder gelegentlich engagieren. Auf die eine funktionierende Gesellschaft nicht verzichten kann.

Die Zahl stammt allerdings noch aus der Zeit vor der Krise. Sie hat das bürgerschaftliche Engagement völlig durcheinander gewirbelt: Die Einschränkung im Frühjahr 2020 mobilisierte noch eine Welle der Hilfsbereitschaft, wie eine Studie der Zivilgesellschaft in Zahlen im Stifterverband (ZiviZ) ergab. Viele der befragten Verbände verglichen die Lage mit der Engagementbereitschaft in den Jahren 2015 und 2016, als Geflüchtete nach Deutschland kamen. Die Hoffnung aber, dass sich der Zuspruch festigen würde, hat sich nicht erfüllt.

Engagement schwindet

Laut  der jüngsten Befragung von Ziviz im November schwindet das Engagement. Organisationen verlieren durch die Krise Mitglieder und damit Beiträge. Die selbst erwirtschafteten Mittel werden weniger,  öffentliches Geld und Spenden sind rückläufig. Dafür steigen die Mehrausgaben. Vor allem weil die Auflagen zur Eindämmung der Pandemie berücksichtigt werden müssen. „Bereits seit Sommer vermelden Vereine Kündigungen auch von Menschen, die sich schon vor Corona dauerhaft engagiert hatten“, sagt Birte Tahmaz, Projektleiterin von ZiviZ.

Hinzu kommt die Digitalisierung: Dass Henrik Maertin nach einem Videocall  bei der Tafel beschäftigt wurde, ist für ihn keine große Sache. Für andere aber schon. Viele Prozesse, Treffen, Angebote und Hilfeleistungen werden notwendigerweise umgestellt. Darauf müssen sich alle Beteiligten erst einmal einstellen.

Digitalisierung widerspricht Suche nach Nähe

Corinna Schüler, Bereichsleiterin der Kölner Freiwilligen Agentur, kann das bestätigen. Die Entwicklung schreckt manche ab. „Das Digitale widerspricht der Suche nach menschlicher Nähe, die viele ja erst zu einem Ehrenamt motiviert.“ Videokonferenz statt Besuchsdienst, sei eben nicht jedermanns Ding.

Andererseits hat die Veränderung andere Helfer auf den Plan gerufen. Experten, die ihre Kenntnisse im Umgang mit den neuen Medien unentgeltlich in Schulungen weitergeben, zum Beispiel. „Die Hilfsbereitschaft in Köln, vor allem in der Nachbarschaft, ist sehr groß“, sagt Schüler. Nur viele Einrichtungen waren bislang damit beschäftigt, sich an neuen Regularien und Anforderungen anzupassen. Das hat die Suche nach geeigneten Einsatzstellen komplexer gemacht.

Maertin hat den Lkw-Führerschein gemacht

Bei Henrik Maertin hat sich sofort alles gefügt. Er sitzt nun hinter dem Steuer eines sperrigen Lieferwagens mit Kühlaufbau. Den zu fahren, muss man sich zutrauen. Maertin hat im Winter sogar einen LKW-Führerschein gemacht. „Vielleicht kann ich auch den mal für soziale Dienste einsetzen.“

Früh Morgens fährt er Bäckereien, Supermärkte und Metzgereien ab. Dann hievt der sportliche Mann die Kisten in den Wagen und später in die Halle. Das sorgt für enorme Erleichterung. Das spürt Maertin, der immer wieder betont, dass er doch gar nichts Spektakuläres tut, dafür aber selbst viel lernt. Er sei schockiert gewesen, wie viel an Lebensmitteln ohne die Tafel im Müll landen würde. Das weiß man theoretisch. Jetzt läuft er aber unmittelbar vorbei an tadellosem Fenchel, abgepackter Wurst, Tüten von Süßigkeiten. „Mir wurde nochmal bewusst, in welchem Überfluss wir leben und dass es gleichzeitig Menschen gibt, die nichts haben.“ 

Muss man sich eine Ehrenamt leisten können? Mertin überlegt. „Zeitlich.“ Er denkt an die „Denkmäler der Arbeit“, die er nie getroffen hätte, weil sie unter anderen, weniger komfortablen Umständen hierher finden. Vielen würde etwas fehlen, wenn sie die Aufgabe nicht hätten. Wie der Köchin, die die Tage zählt, bis sie wieder für das Team Mittagessen zubereiten kann. Oder der 87-Jährigen Frau, die einfach zu viel Zeit hat. Junge Menschen im Bundesfreiwilligendienst arbeiten hier, Vollzeitbeschäftigte, die sich am Wochenende kümmern.

Maertins Schicht ist vorbei. Er fährt den Wagen wieder auf den Parkplatz. Der zweite Wagen ist vor kurzem kaputt gegangen. “Jetzt müssen wir wohl künftig mit einem kleineren Wagen häufiger fahren.“ Er wird nachdenklich. Irgendwie geht ihn das jetzt an. Ob er weiter bei der Tafel arbeiten will, sollte er eines Tages wieder fliegen können? Die Antwort kommt schnell und entschlossen. „Ja. Weil es Sinn ergibt.“

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