PsychodramaWo die Seele handelt und das Gute siegt

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Spielend Stärke gewinnen

Spielend Stärke gewinnen

Heute ist Samirah (alle Namen geändert) für eine Stunde stark, mächtig und befreit von jeder Angst: Von Kopf bis Fuß eingehüllt in lilafarbenen Tüll spielt sie Elsa, eine mit Zauberkräften ausgestattete Eisprinzessin, die in der Lage ist, ihre Umwelt mit einem Fingerschnipp in Eis und Frost zu verwandeln.

Sichtbar stolz auf ihre Mächte hopst die Fünfjährige durch die Turnhalle im Familienzentrum Bickendorf des Sozialdienst Katholischer Männer (SKM), vorbei an Tüchern, Kissen, Leitern und bunten Matten – die die Häuser und Ställe ihrer Mitstreiterinnen symbolisieren. Denn die sind zum Großteil in die Rolle eines Turnierponys geschlüpft. Anna, Hermine und Ecrin , allesamt fünf Jahre alt, liegen wiehernd und schnaubend auf den mit bunten Decken ausgelegtem Boden des Ponyhofs. Es ist Nacht. Denn über allen wacht, hoch oben auf einer hölzernen Sprossenleiter, Mathilda – als leuchtender Stern.

Lebensfrohes Rollenspiel

Was die fünf Vorschulkinder gemeinsam mit ihren Spielleitern und SKM-Mitarbeitern Tobias Glauch und Simone Auer als Bauer und Bäuerin auf die Bühne bringen, nennt sich in Fachkreisen „Psychodrama“ – und ist genau das Gegenteil dessen, wonach es klingt: Eben kein Drama, sondern ein lebensfrohes Rollenspiel, das die seelische Widerstandsfähigkeit von Vorschulkindern aus belasteten Lebenswelten stärken soll – um vorbereitet zu sein auf die Herausforderungen des (Schul-)Alltags.

„Psychodrama bedeutet übersetzt so viel wie: die Seele, die handelt“, sagt Tobias Glauch. Es geht darum, dass Kinder wieder gemeinsam ins Spiel kommen und dabei erfahren, dass sie, wie auch im wahren Leben , die Rollen wechseln, damit sie selbst etwas verändern und spüren können: Ich bin nicht handlungsunfähig! Das festigt ihr Vertrauen in die eigene Stärke und kräftigt die Selbstwirksamkeit.

Seelische Widerstandskraft

„Wir erwachsenen Mitspieler moderieren, spiegeln und lenken das Geschehen – jedoch aus unserer von den Kindern zugewiesenen Rolle heraus, und nicht, indem wir von außen Regieanweisungen geben“, sagt Simone Auer. So können Erfahrungen etwa mit Gewalt, Aggression, Mobbing oder Sucht spielend reflektiert, und alternative Verhaltensmuster erarbeitet werden.

Von jetzt auf gleich hat Samirah genug von ihrem Prinzessinnen-Dasein – sie klopft an der symbolischen Stalltür und verkündet: „Will auch Pony sein!“ Anna, Hermine und Ecrin wiehern unisono – und geben damit zum Ausdruck, dass sie einverstanden sind.

Stiller Schrei nach Hilfe

Es ist nicht lange her, dass Samirah ihre Sprache wiederfand. Noch vor wenigen Monaten verstummte sie in der Öffentlichkeit. Nur mit ihrer Schwester wechselte sie Worte – für den Rest ihrer Umwelt hatte sie keine übrig. „Selektiven Mutismus“ nennen Experten diese psychische Störung, bei der Kinder nur mit bestimmten Personen oder in bestimmten Situationen sprechen. „Ihr Schweigen war Samirahs stiller Schrei nach Aufmerksamkeit und Hilfe“, sagt Tobias Glauch.

Die psychisch stark belastete Mutter ließ dem Mädchen keinen Raum sich zu entwickeln. Ihre Angststörungen hatten sie so fest im Griff, dass sie Samirah überbehütete, sie klein hielt und noch mit fünf Jahren im Kinderwagen umherfuhr – damit ihr auf der Straße nichts passiert oder sie nicht in die Kitas ließ – aus Sorge, dass sie dort vergiftet würde. Im Spiel hat Samirah ihre Sprache wiedergefunden – ihre Kraft und Persönlichkeit. Vielleicht auch, weil in der Phantasie- und Schutzwelt, in die sie sich einmal pro Woche begibt, Mut und Stärke über Angst und Sorge siegen. Wenn Stoffe, Matten, Kissen, Hüte, Seile und Taschen den Turnraum ihrer Kita in eine Spielwelt verwandeln. „Im Rollenspiel hat Samirah einen Weg gefunden, sich Gehör zu verschaffen, um sich selbst zu sorgen und mächtig zu sein“, sagt Simone Auer.

Endlich mal  im Fokus

Auch Mathilda, 5, hat ihre Rolle als leuchtender Stern nicht zufällig, ohne Zutun ihrer Seele gewählt. „Ihre kleine Schwester hat in der Kita einmal erzählt, dass es zu Hause sehr chaotisch zugeht“, sagt Tobias Glauch. Zu viele Kinder auf zu kleinem Wohnraum und Eltern, die mit zu vielen Jobs die Familie ernähren. Da bleibt kaum Zeit für Fürsorge oder Aufmerksamkeit. Als leuchtender Stern dagegen erlebt Mathilda zweierlei: Den Überblick zu behalten und wahrgenommen zu werden.

Im Spiel ist fast alles erlaubt. Es gibt nur drei Gebote: Niemand darf ein anderes Kind verletzen, nur so tun als ob; keiner darf vom anderen etwas kaputt machen; und kein Kind darf Grenzen überschreiten, indem es ungefragt in die Spielwelt des anderen eintritt. Simone Auer: „Kinder können Probleme noch nicht artikulieren, das Spiel wird zu ihre Sprache. Dabei zeigen sie, was sie bewegt. Das ist unsere Chance, ihnen zuzuhören, um sie, ihre Probleme und Stärken besser zu verstehen und gemeinsam Lösungen vereinbaren zu können.“

Alkoholkranke Mutter

Simone Auer erzählt von einem Kind, das immer nur das kranke Kätzchen spielen wollte – und Simone Auer stets die Rolle der Bäuerin zuordnete, die permanent damit beschäftigt war, das Erbrochene des Kätzchens aufzuputzen, seine Kopfschmerzen zu kurieren, es schlafen zu lassen, bis es wieder brechen musste. „Irgendwann war ich stinksauer und wehrte mich: Ich habe keine Lust mehr, mich um Deine Wehwehchen zu kümmern, das ekelt mich an und überfordert mich!“ Simone Auer sprach dem Kind aus der Seele, spiegelte in ihrer Rolle als Bäuerin die Wut des Kindes – auf seine alkoholkranke Mutter.

Simone Auer und Tobias Glauch übernehmen im Rollenspiel meist Figuren, die den Kindern Sicherheit geben, die versorgen und retten, sind manchmal aber auch diejenigen, die gejagt, überwältigt und am Ende bestraft werden. Denn oft verbergen sich hinter den Figuren Familienkonstellationen.

Wo das Gute siegt

„Thematisch geht es den Kindern meist um Gut und Böse, wobei sie die Missetäter wie Hexe oder Monster ausschließlich uns Erwachsenen zuteilen und uns aus ihrer Rolle heraus bestrafen, indem sie uns in Verliese einsperren, mit vergifteten Pommes frites auslöschen oder lächerlich machen“, sagt Tobias Glauch. Oberste Prämisse: Im Rollenspiel kann das Böse nicht gewinnen, auch wenn es die Kinder in der realen Welt schon erlebt haben. Trennung, Tod, Gewalt, Vernachlässigung oder Sucht. „Dadurch, dass sie selbst daran beteiligt sind, dass das Gute siegt, gewinnen die Kinder an Selbstsicherheit und Vertrauen in die eigene Wirksamkeit – und in die Welt,“ sagt Simone Auer.

In der Turnhalle des Familienzentrums Bickendorf geht es gerade dem großen Finale entgegen: Einem nächtlichen Springturnier. Nachts deshalb, damit Mathilda ihre Rolle als leuchtender Stern spielen kann. Kaum ist sie auf die oberste Sprosse der Leiter geklettert, bringen sich die gestriegelt und geschniegelten Ponys in Startposition. Tobias Glauch baut blaue, grüne und gelbe Polster als Hürden auf und ein Kind nach dem anderen springt, hüpft oder wirft sich über die höher werdenden Barrieren.

Inhaftierter Vater

Anna (Pony Twilight), die nach jedem Sprung einen Knicks in Richtung Publikum macht und stolz durch ihre langen Haare streicht, genießt die Aufmerksamkeit in vollen Zügen – sogar Karla Kolumna von der örtlichen Presse ist anwesend, um der Bedeutung des Ereignisses gebührend Gewicht zu verleihen. Schließlich bieten die Ponys eine deutschlandweite Premiere: Einen gefährlichen Sprung über den Feuerturm.

Als Bäuerin Simone am nächsten Morgen den fiktiven, vor Lob nur so strotzenden Zeitungsbericht vorliest, wachsen die fünf Kinder sichtlich aus sich heraus. Annas Lächeln strahlt am hellsten. Die Erfahrung, Aufmerksamkeit und Bewunderung zu erhalten und damit auch die Grundbotschaft „Du bist richtig und gut so wie du bist“ zu spüren, dürfte in ihrem Zuhause Seltenheitswert haben. Annas Vater war straffällig, die Mutter ist Dauerpatientin einer Klinik.

Psychodrama: Im Spiel Stärke und Selbstvertrauen gewinnen

Das therapeutische Rollenspiel „Psychodrama“ für Kinder wurde ab 1976 im Institut Bergerhausen entwickelt. In der Erwärmungsphase erarbeiten ausgebildete Fachkräfte gemeinsam mit den Kindern, welche Geschichte gespielt werden soll, wo und wer welche Rolle erhält. Nachdem gemeinsam die Bühne eingerichtet wurde startet das Spiel. Zum Schluss wird es von der gesamten Gruppe aufgelöst – die Rollen werden abgegeben. Beliebte Spielwelten sind der Bauernhof, Piratenschiffe, Superhelden im Kampf gegen das Böse oder Rittergeschichten.

Hintergrund: Kinder sprechen nicht gerne über Probleme oder Belastungen, oder sie können es nicht. Sie möchten nicht über unangenehme Gefühle reden und sie so erneut durchleben. Das Spielen ist eine lustvolle Chance, Probleme zu thematisieren und zu bearbeiten.

Zielgruppe sind Kinder zwischen fünf und 13 Jahren, die in problematischen Verhältnissen leben, etwa Gewalt erfahren haben, Demütigungen oder Vernachlässigungen ausgesetzt, mit Tod und Trauer konfrontiert, körperlich, geistig oder psychisch beeinträchtigt sind.

Ziele: In der Gruppe sollen Kinder im Spiel entlastet werden, sich wohlfühlen, öffnen und ihre Stärken entdecken. Sie sollen Vertrauen in sich selbst und die Mitspieler aufbauen und ihre sozialen Kompetenzen erweitern.

Neun Mitarbeiter des Sozialdienst Katholischer Männer (SKM) haben sich bislang beim Kölner „Szenen“-Institut zum Psychodrama-Leiter ausbilden lassen. Sie betreuen derzeit fünf Gruppen in SKM-Familienzentren, die sich vorwiegend in Sozialen Brennpunkten Kölns befinden und von vielen Kindern mit erhöhtem Förderbedarf besucht werden. Das auch von „wir helfen“ geförderte Projekt ist auf Spenden angewiesen, um es möglichst in allen Familienzentren – und auch in Grundschulen etablieren zu können.

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