Kölner Verteidigungsexperte Carlo Masala im Interview„Prigoschins Tod war ein Tod mit Ankündigung“

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30.08.2023, Russland, St. Petersburg: Ein Porträt des Chefs des Wagner-Konzerns, Jewgeni Prigoschin, der am 23.08.2023 bei einem Flugzeugabsturz ums Leben kam, steht zwischen Blumen auf einem Grab auf dem Friedhof Porochowskoje. Der russische Söldnerführer Jewgeni Prigoschin ist nach Angaben seines Pressedienstes in seiner Heimatstadt St. Petersburg beerdigt worden. Bei einer Trauerfeier im engsten Kreis ohne Öffentlichkeit sei Abschied genommen worden, teilte der Pressedienst des Chefs der Privatarmee Wagner am 29.08.2023 mit. Interessenten, die sich nun auch von dem am 23.08.2023 bei einem Flugzeugabsturz getöteten Geschäftsmann verabschieden wollten, könnten dies auf dem Friedhof Porochowskoje tun, hieß es. Foto: Dmitri Lovetsky/AP/dpa +++ dpa-Bildfunk +++

Der russische Söldnerführer Jewgeni Prigoschin ist nach Angaben seines Pressedienstes in seiner Heimatstadt St. Petersburg beerdigt worden. Trotzdem gibt es Zweifel, ob der Geschäftsmann wirklich tot ist.

Im Interview spricht Carlo-Antonio Masala über die Entwicklungen im Ukraine-Krieg, die Bundeswehr, den Fall Prigoschin – und über das Schreckensszenario Atomkrieg.

Carlo-Antonio Masala ist ein deutscher Politikwissenschaftler und Professor für Internationale Politik an der Fakultät für Staats- und Sozialwissenschaften der Universität der Bundeswehr München. Seit Beginn des Ukraine-Krieges konnte er dank seiner Expertise immer wieder die Vorgänge in der Ukraine und in Russland einer breiten Öffentlichkeit verständlich machen.

Herr Masala, ist Prigoschin wirklich tot?

Das kann keiner sagen. Aber wir gehen mal davon aus. Da hängt ja oft die Vorstellung dran, dass der russische Präsident Wladimir Putin oder auch Prigoschin so geniale Figuren sind. Ich verstehe nicht, warum das nach 18 Monaten Krieg immer noch der Fall ist. Es war ein Tod mit Ankündigung, deswegen muss man davon ausgehen, dass Prigoschin Geschichte ist.

Ist die Nato unzufrieden mit den Fortschritten der Ukrainer bei ihrer Gegenoffensive?

Die Nato sagt dazu nichts. Die negativen Einschätzungen, die man zuletzt gehört hat, stammen von amerikanischen anonymen Quellen, denen die Regierung und der US-Generalstabschef auch widersprochen haben.

Wie schätzen Sie die aktuelle Situation an der Front ein?

Die Ukrainer haben den ersten Verteidigungsring durchbrochen. Sie konzentrieren sich jetzt auf den zweiten und dritten. Was die Artillerie angeht, haben sie inzwischen meiner Einschätzung nach Parität geschaffen. Ob das für den großen Durchbruch sorgt, kann keiner sagen. Aber wir sehen, dass das die Russen sehr ernst nehmen, weil sie Einheiten an Fallschirmjägern aus dem Osten in den Süden verlegen. Das heißt, dass ein Teil der ukrainischen Strategie, die russischen Truppen zu überdehnen, aufgeht. Sie haben einen Teil ihrer Ziele erreicht, aber unter hohem Blutzoll.

Ist damit der russische Gegenangriff auf Kupjansk Geschichte, wenn die Russen Truppen in den Süden verlegen müssen?

Nein, aber wir sehen, dass die ganzen russischen Gegenangriffe nicht besonders erfolgreich sind. Viele werden von den Ukrainern zurückgeschlagen oder sie halten zumindest ihre Stellungen. Aber die Situation ist offen, es ist ein dynamischer Prozess.

„Einen Gamechanger gibt es in diesem Krieg überhaupt nicht“

Die Ukrainer haben mit der schwedischen Luftabwehrrakete Saab RBS 70 offenbar ein Mittel in die Hand bekommen, um die russische Luftüberlegenheit zu brechen. Ist das ein Gamechanger?

Einen Gamechanger gibt es in diesem Krieg überhaupt nicht. Aber die große Schwäche der Ukraine ist die Luftverteidigung. Die Russen hatten in der Vergangenheit punktuell eine Luftüberlegenheit. Aber wir sahen in den vergangenen Tagen, dass es den Ukrainern durchaus gelingt, russische Kampfhubschrauber abzuschießen.

Ein Teil der russischen Schwäche liegt offenbar darin, dass die erfahrenen Truppen zu einem großen Teil aufgebraucht sind und stattdessen unerfahrene frisch mobilisierte Truppen an die Front geschickt werden. Nun hat die Ukraine ebenfalls eine neue Mobilisierungsinitiative angekündigt. Stehen die Ukrainer damit vor dem gleichen Problem?

Viele ukrainische Soldaten werden zunächst nach Deutschland oder Großbritannien geschickt, um dort trainiert zu werden. Sie kommen dann mit besseren Voraussetzungen an die Front als die russischen Soldaten. Aber natürlich haben sie nicht die Erfahrung der Soldaten, die seit anderthalb Jahren im Kampfeinsatz sind.

„Die Angriffe auf der Krim sind wichtig“

Die Ukrainer greifen immer öfter die Krim an. Sind das nur Nadelstiche oder hat sich dort schon etwas Wesentliches verändert?

Die Angriffe auf der Krim sind wichtig, weil die Krim die logistische Drehscheibe für den südlichen Frontabschnitt ist. Wir sehen, dass vor allem die Angriffe auf die Brücken dazu geführt haben, dass die russischen Versorgungswege länger geworden sind. Das hat eine Auswirkung auf die südliche Front.

Ziel der Ukraine ist auch, die Verteidigungsfähigkeit der Russen auf der Krim selbst zu schwächen. Die Ausschaltung der S-400, des modernsten Luftabwehrsystems der Russen, war schon ein Meisterstück. Wenn es den Ukrainern auch gelungen ist, die Radarstationen auszuschalten, dann ist die Verteidigung der Krim geschwächt. Aber das wissen wir nicht.

Werden wir in diesem Jahr noch einmal einen großen russischen Bodenangriff sehen?

Das sehe ich momentan nicht. Es gibt immer wieder das Gerücht der 100.000 Mann, die bei Lyman zusammengezogen worden sein sollen, aber das erweist sich eher als russische Propaganda.

„Ukraine könnte bis Melitopol vorrücken – wenn es gut läuft“

Was kann die Ukraine in der laufenden Gegenoffensive noch erreichen?

Den Vorstoß bis zum Asowschen Meer halte ich für unwahrscheinlich. Aber dass sie Tokmak einnehmen und dann weiter bis Melitopol vorrücken könnten – das halte ich für durchaus wahrscheinlich, wenn es gut läuft.

Wie stark ist die Bundeswehr durch die Waffenlieferungen an die Ukraine geschwächt?

Sie ist nicht übermäßig geschwächt, weil immer darauf geachtet wurde, dass die Bundeswehr zumindest ihre Verpflichtungen im Rahmen der Nato aufrechterhalten kann. Es gibt durchaus Engpässe, aber nicht zulasten der generellen Verteidigungsfähigkeit der Bundeswehr.

Was kann die Bundeswehr aus dem Krieg lernen?

Jede Menge. Zunächst die Rolle, die Drohnen spielen – und zwar jede Form der Drohne, von der Kampfdrohne bis zur modifizierten billigen Supermarktdrohne. Sie kann lernen, dass der Jagdkampf kleiner selbstständiger Einheiten – auch hinter den feindlichen Linien – wieder an Bedeutung gewinnt. Da sollten wir vielleicht nachlegen. Dass Artillerie zentraler ist als Panzer, weil es ein Artilleriekrieg ist. Und dass elektronische Kampfführung extrem wichtig ist.

Das Wichtigste ist aber die Einbindung der Bevölkerung in Zielerfassungsprozesse: Gerade zu Kriegsbeginn hat die ukrainische Armee aus der Bevölkerung über eine App viele Hinweise über russische Stellungen erhalten, die dann zerstört wurden.

Was bedeutet das für die künftige Ausrüstung der Bundeswehr?

Sonst ist eigentlich alles in Ordnung. Aber die Drohnenfrage irritiert mich, weil die bisher in der Bundeswehr kaum diskutiert wird, wo man doch sieht, welch prominente Rolle Drohnen auf beiden Seiten einnehmen.

„Der Bundeswehr fehlt vor allem das Personal“

Was fehlt der Bundeswehr sonst noch?

Was vor allem fehlt, ist Personal. Das ist die größte Herausforderung überhaupt: Wie kriegen wir mehr Leute in die Bundeswehr? Es ist egal, welche Waffensysteme Sie haben, wenn Sie niemanden haben, der sie bedient.

Wie sieht es mit der Marine aus?

Die Marine musste bei den Kürzungen im 100-Milliarden-Euro-Sondervermögen am meisten bluten. Doch da wurde noch einmal nachgesteuert, sodass die Marine jetzt besser dasteht als noch vor Monaten. Aber man darf nicht vergessen, dass die Marine als kleinste Teilstreitkraft schon immer einen schweren Stand in der Bundeswehr hatte, weil wir immer noch eine sehr stark auf Land konzentrierte Macht sind.

Wie kann man Menschen in Deutschland überzeugen, die trotz aller Kriegsgräuel immer noch zu Putin stehen?

Ich glaube, wem nach 18 Monaten Krieg nicht klar ist, was da passiert, dem ist nicht mehr zu helfen. Jeder kennt die Bilder aus Butscha. Jeder kennt die Berichte von russischen Vergewaltigungen. Jeder kennt die Anzahl der deportierten Kinder. Wer jetzt noch glaubt, dass Russland einen Selbstverteidigungskrieg führt und nur der Nato zuvorgekommen sei, dem ist nicht mehr zu helfen.

Der größte Teil derjenigen, die an der Seite Putins stehen, weist eine erstaunliche Korrelation zu denjenigen auf, die schon die Corona-Maßnahmen abgelehnt haben, die in der Flüchtlingskrise 2015 vor dem Untergang des Abendlandes warnten und die generell glauben, wir lebten in einer „Demokratie-Simulation“. Diese Leute sind für die Demokratie verloren.

„Putin wird kein Ziel in Deutschland angreifen“

Viele Menschen hier haben Angst, die Krise könnte sich sogar zu einem Atomkrieg ausweiten. Welche Ziele in Mecklenburg-Vorpommern wären dann gefährdet – schließlich liegen wir dem russischen Staatsgebiet am nächsten?

Das Marinekommando in Rostock. Aber das werden sie nicht bombardieren. Putin wird kein Ziel in Deutschland angreifen, weil ihm angedroht wurde, dass dann seine Schwarzmeerflotte und seine Flugplätze für strategische Bomber in Schutt und Asche gelegt würden. Und er will nicht den Dritten Weltkrieg auslösen. Dafür hätte er schon ausreichend Gelegenheiten gehabt. Seine Verbündeten China und Indien haben ihm deutlich gemacht, dass sie das nicht akzeptieren würden. (Axel Büssem, RND)

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