Die unbesiegte StadtWie der Alltag der Menschen in Kiew jetzt aussieht

Lesezeit 7 Minuten
Kiew Panzer Denkmal 230522

Ukrainische Soldaten entladen einen zerstörten russischen Panzer, um ihn als Symbol des Krieges im Zentrum von Kiew zu installieren.

Kiew – Jogger drehen in aller Frühe ihre Runden auf dem Maidanplatz in Kiew. Die Frühlingssonne sticht ins Auge, viele tragen Sonnenbrillen unter ihren Stirnbändern. Die Jogger weichen Barrieren aus Metall und Beton und den Sandsäcken vor dem Eingang zur Metro aus, als gehöre der Slalom zu ihrem Trainingsparcours. Es ist einiges los für eine Stadt im Krieg. Junge Leute sitzen an einer Bushaltestelle und gähnen, als hätten sie gerade einen Club verlassen. Dabei herrscht Ausgangssperre in Kiew nach 23 Uhr. Ein Nachtleben existiert nicht mehr.

Plötzlich schrillen Sirenen über den Platz. Doch niemand erhebt sich von der Bushaltestelle, niemand hastet zum Eingang der Metro. Die Jogger halten ihre Geschwindigkeit, als würde der Alarm sie nicht stören. Nur ein paar Tauben fliegen vom Lärm irritiert davon. Dann ist der Spuk vorbei und der Maidan wieder ein ruhiger Ort, der am frühen Morgen in der Sonne glänzt.

Viele Kiewer sind beim Luftalarm entspannt

Die Kiewer scheinen nach zweieinhalb Monaten Krieg ihren Weg gefunden zu haben, mit den russischen Raketen umzugehen. Manche sagen, er bestehe darin, sich nicht mehr im Alltag von Alarmsignalen stören zu lassen und blind auf die Luftabwehr zu vertrauen. Die Behörden veröffentlichen daher in den sozialen Medien immer drastischere Mahnungen, den Sirenenton ernst zu nehmen und einen Schutzraum aufzusuchen.

Bars, Cafés und Straßen leeren sich aber nicht, wenn das Warnsignal erklingt. Ein Grund könnte sein, dass sich die Zahl der Alarme nach dem russischen Abzug aus den Vororten von Kiew Ende März drastisch verringert hat. Ertönten die Sirenen Anfang März noch etwa alle 30 Minuten, schweigen sie nun manchmal den ganzen Tag. Die Russen hätten anderes zu tun, als Kiew zu terrorisieren, heißt es allenthalben.

Hostomel Flughafen Kiew 230522

Menschen stehen am zerstörten Flughafen Hostomel am Stadtrand Kiews.

Sobald der Sirenenton erklingt, gelte es, genau hinzuhören, meint eine Kiewerin bei einem Gespräch in einem Café. „Hörst du einen Knall, dann hat unsere Luftabwehr die Rakete in der Luft erwischt und alles ist in Ordnung. Ist dagegen ein leises Zischen in der Luft, befindet sich die Rakete im Anflug, dann gehst du am besten ins Badezimmer oder in einen Gang, wo es keine Fenster gibt“, erklärt sie.

Die letzte Rakete traf Kiew während Guterres-Besuch

Sei außer dem Geheule der Sirenen gar nichts zu hören, führe die Flugbahn das Geschoss weg von der Stadt. Die Gefahr sei gleich null, fügt sie hinzu. Das sei in den letzten Wochen der Normalfall gewesen. „Wenn ich gerade im Bus sitze und nur Sirenen höre, stehe ich nicht auf und renne irgendwohin“, sagt sie. Eine russische Rakete traf Ende April während des Besuches des UN-Generalsekretärs António Guterres zum letzten Mal ein Ziel in der Hauptstadt. Für die Kiewer scheint das schon eine halbe Ewigkeit her zu sein.

Einige Kilometer vom Maidan entfernt im Bezirk Obolon im Norden von Kiew schläft die 13-jährige Nastia Ratuschny noch am späten Vormittag auf der Pritsche in einem Luftschutzbunker. Ihr Vater Valentin huscht um das provisorische Bett herum. Er wolle keine Fragen beantworten, um seine Tochter nicht zu stören, meint er. Die Freiwillige Nadiya Govorun vermutet, dass der Vater nicht über seine Ängste reden möchte. Sie nennt die Familie Ratuschny „Langzeitbewohner“.

„Sie kommen jede Nacht, obwohl es viel ruhiger geworden ist. Der Vater behauptet, sie seien hier bloß wegen der Tochter, die zu Hause nicht schlafen könne“, sagt Govorun. Manchen sitze die Panik der Bombennächte noch so in den Knochen, dass sie sich in regelrechte Höhlenbewohner verwandelt hätten, meint Govorun.

Lesen im Luftschutzbunker

Govorun unterrichtet an einer Hochschule Englisch. Sie gibt Onlinekurse und verbringt jede freie Minute in dem Luftschutzbunker. Freiwillige wie sie knüpfen dort aus Fäden und Plastikstreifen Tarnnetze für die Armee und sammeln Spenden für Zivilisten und Zivilistinnen in den Städten nahe der Front. Govorun betreut seit dem Beginn des Krieges am 24. Februar den Luftschutzbunker unter einer Bücherei in dem Wohnbezirk.

Bis zu 100 Menschen hätten zwischen Regalen voller eingestaubter Literatur sowie in den Gängen auf Matratzen Platz gefunden. „Man glaubt es nicht, wie viele Menschen, die noch nie ein Buch in der Hand hatten, hier angefangen haben zu lesen“, erzählt sie.

Kiew Frau Trauer 230522

Eine Frau trauert um ihren getöteten Mann.

Mitte März eröffneten zunächst wieder die Friseursalons in der Stadt. Es folgten die übrigen Geschäfte und Cafés, Restaurants und Bars. Die Supermärkte bieten Einkaufenden das Bild eines vom Krieg kaum beschränkten Sortiments. Frische Ware liegt in Regalen und das in der Ukraine produzierte Sonnenblumenöl ist anders als in Deutschland kein Mangelprodukt. Lieferketten in die EU und in viele Landesteile sind nach dem Abklingen der Kampfhandlungen wieder hergestellt worden. Die Preise sind allerdings für viele Produkte gestiegen.

Ein Rechtsanwalt vermisst seine Familie

Der Rechtsanwalt Dmytro Nazarets erzählt seine Geschichte in seinem Büro. Er sei dankbar für das Gespräch, denn die Arbeit lenke ihn gerade nicht genügend von seinen Sorgen ab. „Die Gerichte in Kiew haben noch geschlossen. Außerdem bin ich auf Wirtschaftsrecht spezialisiert. Da läuft derzeit nicht viel“, meint Nazarets.

Seine Frau und seine Tochter sind zu einem Bekannten in den Schweizer Kanton Bern geflohen. Nazarets kehrte nach der Flucht in den Westen der Ukraine in den ersten Kriegstagen nach Kiew zurück. „Ich bin zurückgekommen, um mich bei der Armee zu melden. Es hat sich falsch angefühlt, einfach die Stadt zu verlassen“, meint er. Seine Kurzsichtigkeit aber habe eine Einberufung bisher verhindert.

So dankbar er sei, dass die Schweiz seine Familie aufnehme, so schwer falle es in der Ukraine verbliebenen Vätern wie ihm, sich auf eine Trennung für unbestimmte Zeit einzustellen. „Manche glauben ja, ein Kind gehört zur Mutter, und Väter kommen schon irgendwie zurecht. Aber ich bin nicht so ein Vater, der in der Erziehung alles den Müttern überlasst“, sagt er.

In der Stadt fehlen die Kinder

Kiews Bürgermeister Vitali Klitschko erklärte am 10. März, dass die Hälfte der circa 2,8 Millionen Einwohnenden aus der Hauptstadt geflohen sei. Genau zwei Monate später sprach Klitschko davon, dass zwei Drittel der Einwohner und Einwohnerinnen wieder zurück in der Stadt seien. Auffallend im Straßenbild ist das Fehlen der Kinder.

Es sind in erster Linie Väter ohne ihre Familien und junge Erwachsene ohne Kinder, die Kiew am Laufen halten. Wie viel Anstrengung das kostet – zumal jeder auch um Angehörige in der Armee oder in den umkämpften Landesteilen bangt –, lässt sich nur erahnen.

Das könnte Sie auch interessieren:

Und dann ist da noch eine ganz besondere Angst der Frauen von Kiew, die Butscha nicht vergessen haben. Julya Sirous bestellt sich in einem Café in Podil einen Pancake, den sie dann nicht anrührt. Sie gehört zu den Organisatoren der Kyiv Pride, dem Kiewer Pendant zum Christopher Street Day.

Die LGBT-Aktivistin berichtet von der Unterstützung feministischer Gruppen für die Vergewaltigungsopfer aus dem Kiewer Vorort Butscha und anderen von den Russen bis Ende März besetzten Vororten von Kiew. „Die Arbeit ist so schwierig, dass die Psychologinnen selbst Hilfe brauchen“, erzählt Sirous.

Bangen um die Verwandten und Bekannten an der Front Niemand spreche gerne darüber, aber vielen Frauen in Kiew sei klar, dass der Widerstand in den Vororten sie womöglich vor einem ähnlichen Schicksal bewahrt habe. „Das macht etwas mit einem und die Sache ist ja noch nicht ausgestanden“, sagt Sirous. Feministinnen oder LGBT-Aktivisten sammelten nun Spenden für die Armee.

Sirous arbeitet für ein internationales Unternehmen. Cafés und Restaurants zu besuchen und zu konsumieren, ist für sie ebenfalls ein Beitrag, die ukrainischen Streitkräfte zu unterstützen. „Ohne eine Wirtschaft, die läuft, gibt es auch keine Armee mehr“, sagt sie. Dann blinkt das Smartphone auf. Sirous liest die Nachricht und bleibt einen Moment still. „Mein Bruder hat in Mariupol gekämpft. Wir haben seit einer Woche nichts mehr von ihm gehört.“

KStA abonnieren