DRK in MarokkoHelfer konnten noch nicht in alle betroffenen Gebiete vordringen

Lesezeit 5 Minuten
Eine Frau in Marokko in einem Dorf zwischen Marrakesch und Taroudant nach dem schweren Erdbeben.

Eine Frau in Marokko in einem Dorf zwischen Marrakesch und Taroudant nach dem schweren Erdbeben. Viele Bergdörfer sind nach wie vor schwer zu erreichen. Regenfälle könnten die Situation verschlimmern.

Marokko nach dem schweren Erdbeben: Im Interview spricht Ulrich Wagner vom Deutschen Roten Kreuz  über die Hilfslieferung in die Bergdörfer und die Sorge vor dem bevorstehenden Regen und Kälteeinbruch.

Ulrich Wagner (47) war vier Jahre lang für das DRK in Beirut tätig, nun ist er seit einigen Tagen in Marokko und unterstützt dort die Partnerorganisation Marokkanischer Roter Halbmond. Im RND-Interview berichtet Wagner von der jüngsten Hilfslieferung in die Berge und die Sorge vor einem baldigen Kälteeinbruch.

Herr Wagner, Sie haben am Samstag und Sonntag mit Helfern des Marokkanischen Roten Halbmonds Hilfsgüter in die Berge gebracht. Wie schwer war es, die Dörfer zu erreichen?

Ulrich Wagner: Das war eine große Herausforderung und hat viele Stunden gedauert. Wir sind mit einem großen Konvoi von etwa zehn Lastwagen und vielen Freiwilligen voller Hilfsgüter in die Berge gefahren. Der Rote Halbmond hatte seine Lagerhäuser mit Notfallreserven im ganzen Land geleert und es gab eine große Spendenwelle im ganzen Land: Firmen und Privatleute haben Kleidung, Decken, Lebensmittel und andere Dinge gespendet. Damit sind wir losgefahren. Die Regierung hatte die Hauptstraße mit Baggern und anderem schweren Gerät geräumt, aber je weiter wir in die Berge kamen, desto gefährlicher wurde es. Oft gab es nur eine Spur und immer wieder kamen Steine herunter. Es gibt immer wieder Erdrutsche und durch das Erdbeben sind neue Bäche entstanden, die nun über die Straße fließen. Oft konnten wir nur 25 km/h fahren. Entlang der Straße sahen wir viele Familien in Zelten und nicht alle waren von guter Qualität. Jede halbe Stunde wurde die Zerstörung der Häuser schlimmer. Am Ende waren die Häuser völlig zerstört und zusammengestürzt.

Wie tief in die Berge konnten Sie mit dem Konvoi fahren?

Als wir einigermaßen zentral in den Bergen waren, haben wir mit der lokalen Verwaltung gesprochen, wo genau Hilfe gebraucht wird. Sie sagten uns, wir sollten noch 50 Kilometer weiterfahren und dann eine 18 Kilometer lange Schotterpiste nehmen. Dort gibt es Dörfer, die noch keine Hilfe bekommen haben. Doch soweit sind wir mit den großen Lastwagen nicht gekommen. Bei der Schotterpiste mussten wir alles auf Pickups umladen. Nur so konnten wir diese abgelegenen Dörfer erreichen. Das ist kein Einzelfall: Auch mehr als zehn Tage nach dem Erdbeben gibt es immer noch Dörfer, in die noch keine Helfer vorgedrungen sind. Das wird langsam zum Problem...

Mehrere Dinge haben mich tief beeindruckt: Die Menschen sind unglaublich belastbar und beginnen bereits, ihren Alltag zu organisieren und sich Gedanken zu machen, wie sie sich im nächsten Jahr ernähren sollen.
Ulrich Wagner, DRK

Warum?

In den nächsten Tagen soll es regnen und wir müssen in den Bergen mit schweren Schlammlawinen rechnen. Kleine Straßen wie diese Schotterpisten sind dann unpassierbar und die Menschen von der Außenwelt abgeschnitten. Außerdem sagen die Meteorologen für die nächsten zwei bis drei Wochen eine Kältewelle voraus. Und genau hier liegt die Gefahr: Wenn wir bis dahin nicht Decken, winterfeste Zelte und Hygieneartikel in diese Dörfer bringen, droht den Menschen dort der Tod. Die Uhr tickt. In zwei Wochen könnten wir den Zugang zu den am schlimmsten betroffenen Gebieten verlieren. Deshalb müssen wir die Menschen jetzt so schnell wie möglich auf den Winter vorbereiten. Doch winterfeste Zelte sind selbst in den besser zugänglichen Gebieten noch Mangelware.

Welchen Eindruck haben die Menschen in den Bergdörfern auf Sie gemacht?

Mehrere Dinge haben mich tief beeindruckt: Die Menschen sind unglaublich belastbar und beginnen bereits, ihren Alltag zu organisieren und sich Gedanken zu machen, wie sie sich im nächsten Jahr ernähren sollen. Denn das Erdbeben hat in vielen Fällen ihre Lebensgrundlage, also ihr Einkommen, zerstört. Viele machen sich Sorgen um ihre Zukunft. Beeindruckt hat mich auch die spontane Welle der Hilfsbereitschaft in der Bevölkerung. So viele Privatpersonen sind mit dem Kofferraum voller Lebensmittel, Decken und Kleidung in die Berge gefahren - das habe ich in diesem Ausmaß noch nie erlebt.

Nach zehn Tagen gehen die Helfer wirklich auf dem Zahnfleisch.
Ulrich Wagner, DRK

Welche Hilfe können Sie mit dem DRK vor Ort leisten?

Wir unterstützen bei der Strukturierung und Logistik der Hilfe des Marokkanischen Roten Halbmonds, organisieren weitere Decken und stellen Gelder zur Verfügung. Die freiwilligen Helfer müssen sich zum Beispiel Essen kaufen können. Wir prüfen, ob wir Geländewagen organisieren können, damit Hilfsgüter auch über solche Schotterpisten transportiert werden können und wir müssen winterfeste Ausrüstung für die Helfer besorgen. Für den Winter wollen wir warme Zelte beschaffen, auch wenn es auf dem Markt kaum noch welche gibt.

Haben die Helfer und Rettungskräfte überhaupt noch die Kraft nach mehr als zehn Tagen?

Nach zehn Tagen gehen die Helfer wirklich auf dem Zahnfleisch. Wir versuchen mit dem Roten Halbmond Schutzmaßnahmen einzuführen, damit die Freiwilligen nicht jeden Tag rausgehen, damit sie etwas zu essen bekommen und sich nicht selbst in Gefahr begeben. Noch immer bergen sie täglich Leichen unter den Trümmern und dies ist auch mental eine schwierige Situation.

Machen Sie sich auch Sorgen um die Gesundheit der Menschen?

Ja, aber nicht wegen der Leichen. Es ist ein Mythos, dass die Verwesung der Leichen eine Gefahr darstellt. Die Verwesung verursacht einen unangenehmen Geruch, ist aber an sich nicht gefährlich. Nur wenn die Menschen vorher ansteckende Krankheiten hatten, wie zum Beispiel Cholera, geht davon eine echte Gefahr aus. Viel mehr Sorgen machen uns die mangelnde Hygiene, die wenigen sanitären Einrichtungen, nicht alle haben Seife und andere Hygieneartikel. Vielerorts fehlt es an sauberem Wasser und Latrinenduschen. (RND)

KStA abonnieren