„Wir haben keine Strategie“Strack-Zimmermann kritisiert Regierung für verfehlte Ukraine-Politik

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Marie-Agnes Strack-Zimmermann (FDP), Vorsitzende des Verteidigungsausschusses gibt nach der Sondersitzung des Ausschusses des Bundestags ein Interview.

Marie-Agnes Strack-Zimmermann (FDP), Vorsitzende des Verteidigungsausschusses

Warum blockiert Deutschland die Lieferung von Panzern an die Ukraine? Die FDP-Politikerin Strack-Zimmermann kritisiert das Kanzleramt.

Die Vorsitzende des Verteidigungsausschusses, Marie-Agnes Strack-Zimmermann, hat die Bundesregierung zu einer langfristigen Planung der Militärhilfen für die Ukraine aufgefordert. Sie kritisierte im RND-Interview, dass Deutschland bisher keine Strategie habe.

Was hat Sie zu Beginn des Kriegs vor zehn Monaten mehr überrascht: der Zustand der Bundeswehr oder der Zustand der russischen Armee?

Strack-Zimmermann: Der Zustand der russischen Armee. Besonders hat mich die schwache militärische Taktik überrascht. Russland war fest davon überzeugt, innerhalb kürzester Zeit die Ukraine einnehmen zu können, und ist damit gescheitert. Das hätte keiner für möglich gehalten. Dass die Bundeswehr schlecht ausgestattet ist und in vielen Bereichen großen Nachholbedarf hat, ist dagegen seit einem Jahrzehnt kein Geheimnis. Viele wollten es aber einfach nicht sehen, gar darüber sprechen.

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Gehen Sie davon aus, dass Russlands Präsident Putin weiterhin die ganze Ukraine einnehmen will?

Das ist sein erklärtes Ziel. Er lässt gerade just in diesen Wochen auf belarussischem Boden ca. 20.000 weitere russische Rekruten ausbilden. Seine imperialistischen Großmachtansprüche hat er mehr als deutlich artikuliert. Dazu gehört, die ganze Ukraine Stück für Stück zu erobern und es seinem russischen Reich einzuverleiben. Putin macht auch keinen Hehl daraus, dass seine Vorstellungen entsprechend über die Ukraine hinausgehen. Damit droht er auch all seinen Nachbarstaaten.

Für einen Sieg gegen Russland hat der ukrainische Armeechef den Westen vor einigen Tagen um 300 Kampfpanzer und 600 bis 700 Schützenpanzer gebeten. Deutschland könnte hier helfen, aber der Wille fehlt im Kanzleramt seit Monaten.

Das Verweigern des Kanzlers, der Ukraine auch Panzer im Kampf ums Überleben zu überlassen, ist nicht nur nicht zu verstehen, es ist erschreckend kurzsichtig. Die Lage vor allem für die ukrainische Zivilbevölkerung ist katastrophal. Ich bin die Ausreden, warum wir keine Panzer liefern können, so was von leid. Vor allem, wenn ich höre, dass Panzerlieferungen eine besondere Provokation Russland gegenüber bedeuten würden. Wir lieferten bereits erfolgreich, um Tausende Menschenleben zu retten, Panzerhaubitzen, Flugabwehrkanonenpanzer, Artilleriesysteme und hochwirksame Flugabwehrsysteme. Jetzt Panzer zu liefern, wäre eine wichtige Ergänzung, um russische Stellungen zurückzudrängen.

Strack-Zimmermann: „Am Ende trägt der Kanzler die Verantwortung“

Ist es die Angst vor einer Eskalation, oder geht vielmehr das russische Narrativ auf, wonach der Westen und die Nato Russland provozieren würden?

Offensichtlich funktioniert ja das russische Narrativ und hält manchen im Kanzleramt davon ab, der Ukraine die dringend benötigten Panzer zu überlassen. Wer von der Sorge fabuliert, es würde damit eine rote Linie gegenüber Russland überschritten, der erzählt die Geschichte des Aggressors, nicht die der Opfer.

Wenn Sie vom Kanzleramt sprechen, dann meinen Sie auch Olaf Scholz?

Es sind die Berater von Herrn Scholz, die dem Kanzler offensichtlich unbeirrbar die Blockade von Kampf - und Schützenpanzern an die Ukraine nahelegen. Am Ende aber trägt der Kanzler der Bundesrepublik die Verantwortung. Ich halte diese Verweigerung für einen ganz großen Fehler. Mich macht es wütend, wenn ich auf die vergangenen Monate blicke und sehe, was für absurde Diskussionen wir geführt haben. Wie viel Zeit ist ins Land gegangen, in der wir schon hätten helfen können. Diese Berater sind immer hinter der Welle, denken überhaupt nicht strategisch. Es ist Winter: Jetzt gehören ukrainische Soldaten am Marder und Leopard 2 ausgebildet. Jetzt müssen umgehend Vorbereitungen getroffen werden, um endlich vor die Welle zu kommen und dasjenige Material zu liefern, was in wenigen Wochen bereits von großer Wirkung wäre.

Gehen Sie davon aus, dass Deutschland im nächsten Jahr Kampf- und Schützenpanzer an die Ukraine liefert?

Wenn ich zurückblicke, wie sich Teile der Bundesregierung gegen die Lieferung von schweren Waffen noch im März und April dieses Jahres gestemmt haben, ja, dann bleibt mir diese Hoffnung. Meine Kollegen und ich werden so oder so nicht nachlassen, darauf zu drängen, bis es endlich umgesetzt wird.

Strack-Zimmermann: „Die westliche Welt wartet, dass Deutschland handelt“

Was stimmt Sie so optimistisch?

In dieser Lage stimmt mich wenig optimistisch. Tatsache ist, dass sich alle bisherigen Argumente in nichts aufgelöst haben. Die ukrainischen Soldaten können sehr wohl schnell ausgebildet werden. Die Panzer können sehr wohl schnellstens verlegt werden. Die europäischen Partner sind sehr wohl bereit, ihren Beitrag zu leisten, sofern Deutschland grünes Licht gibt. Von Alleingang kann keine Rede sein. Auch die USA sind mit der Lieferung deutscher Panzer in die Ukraine einverstanden. Keiner meiner Gesprächspartner in Washington behauptete etwas anderes. Alle Fäden laufen also beim Kanzler zusammen. Die freie westliche Welt wartet voller Ungeduld, dass Deutschland handelt.

Wenn Deutschland bei der Unterstützung der Ukraine vor die Welle kommen will, wie Sie gesagt haben, warum machen wir dann keinen Plan und überlegen, was die Ukraine in den nächsten zwei, vier und sechs Monaten benötigt?

Das wäre der richtige Schritt, den wir im engen Austausch mit der ukrainischen Armee und den Nato-Partnern vornehmen sollten. Russland wird nicht aufhören, die Ukraine weiterhin mit seinem Terror zu überziehen. Deutschland muss mit seinen Partnern ein Szenario entwerfen, wie die Unterstützung in den kommenden Monaten entsprechend weitergehen soll. Agieren ist angesagt, nicht immer nur reagieren. Es muss präventiv Material geliefert werden, wo sich schon jetzt Engpässe abzeichnen. Munition und Ersatzteile sind schon jetzt ein kostbares Gut und werden weiter dringend benötigt werden.

Deutschland muss also seine Strategie überdenken?

Bevor man eine Strategie überdenkt, muss man erst mal eine haben. Wir haben aber keine Strategie. Das ist das Problem. Nur immerzu auf ukrainische Hilferufe zu reagieren, das ist langfristig keine Strategie.

Liegt das vielleicht auch daran, weil die Regierung der Bevölkerung sonst sagen müsste, dass die Unterstützung der Ukraine sehr teuer wird?

Es ist weniger eine Frage der Ausgaben. Einige Abgeordnete scheuen sich offensichtlich davor, der eigenen Klientel die brutale Realität dieses russischen Feldzuges und die Folgen daraus auch für Deutschland zu erklären. Dieser Krieg geht uns etwas an. Wegschauen, in Deckung gehen ist nicht das Gebot der Stunde. Das Gebot der Stunde ist, Russlands Angriff auf unsere Werte, auf unser Leben, auf unser System sehr ernst zu nehmen und entsprechend abzuwehren. Deswegen ist das nicht ein Krieg irgendwo im Nachbarland, sondern er betrifft uns unmittelbar. Und wenn wir in Zukunft weiterhin in Freiheit und Frieden leben wollen, ja, dann kostet das auch am langen Ende Geld.

Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) und Marie-Agnes Strack-Zimmermann (FDP) zu Beginn einer Sondersitzung des Verteidigungsausschusses im Bundestag. K

Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) und Marie-Agnes Strack-Zimmermann (FDP)

Tut Kanzler Scholz zu wenig, um das der Bevölkerung zu vermitteln?

Wir müssen die Menschen mitnehmen, und der Bundeskanzler tut das ja phasenweise auch. Im Bundestag rief er im richtigen Augenblick die Zeitenwende aus, und als er bei einer Veranstaltung öffentlich ausgepfiffen wurde, wurde er klar und deutlich und ließ keinen Zweifel daran, dass die Ukraine in der Lage sein müsse, sich selbst zu verteidigen. Zwischendurch warten wir aber vergebens auf entsprechende Entscheidungen. Es bedarf aber eines konstanten, unmissverständlichen Vorgehens. Die Zeit läuft dem geschundenen ukrainischen Volk davon. Das wahrzunehmen und gleichzeitig dieses Zögern zu sehen ist unerträglich.

Blicken wir noch weiter nach vorne: Wie kann sich die Ukraine nach dem Ende des Krieges dauerhaft vor Russland schützen?

Die Ukraine braucht über diesen Krieg hinaus seitens der Nato Sicherheitsgarantien. Wir sichern der Ukraine zu, auch nach einem Friedensschluss weiter an ihrer Seite zu stehen. Und am langen Ende, sofern alle Voraussetzungen erfüllt sind, Mitglied der Nato zu werden.

Das heißt, der Westen rüstet die Ukraine auf mit allem, was sie benötigt?

Jedes Land unterstützt mit dem Material, welches von Nutzen ist und was es zur Verfügung stellen kann. Entweder aus Beständen der eigenen Armee oder aus Industriebeständen. Die Ukraine muss nach dem Krieg auch wirtschaftlich so gestärkt werden, dass sie selbst wieder in der Lage ist, Abwehrwaffen herzustellen und Russland es nicht erneut wagt, die Ukraine anzugreifen.

Zuletzt wurden die Forderungen nach Verhandlungen und Diplomatie lauter. Da schwingt die Hoffnung auf ein baldiges Ende des Krieges mit. Müsste die Regierung nicht so ehrlich sein und den Menschen sagen, ein schnelles Ende gibt es nicht?

Der Krieg ist sofort zu Ende, wenn Russland seine Truppen abzieht und die Integrität der ukrainischen Grenzen wiederherstellt. Wenn die Ukraine allerdings vorher aufhört, sich zu verteidigen, wird ihr Land von der Landkarte verschwinden. Die Ukraine hat eine hohe Kampfmoral und leistet erbitterten Widerstand. Russland spielt auf Zeit und würde Verhandlungen nur dazu nutzen, um die Armee zu regenerieren, um anschließend neue Angriffe zu starten. Es gibt kein Vertrauen mehr zu Russland. Letztendlich allerdings wird allein die Ukraine entscheiden, wie es weitergeht.

Ein unbelastetes Verhältnis zu Russland wird es jahrzehntelang nicht geben.

Scholz hat Russland für den Fall einer Beendigung des Kriegs die Rückkehr zu einer wirtschaftlichen Zusammenarbeit in Aussicht gestellt. Halten Sie das für den richtigen Weg?

Das ist mir neu, dass er das gesagt haben sollte. Ich hielte das allerdings auch für völlig unrealistisch. Dieses Russland hat sich aus der Gemeinschaft der humanitären Staaten verabschiedet. Wladimir Putin ist ein Kriegsverbrecher, ein Terrorist, ein Massenmörder. Große Teile des russischen Volkes befürworten den Kurs Putins und den Krieg gegen das Nachbarland. Die vielen russischen Soldaten, die täglich morden, brandschatzen, foltern und vergewaltigen, sind ebenso verantwortlich für diesen Krieg. Ein unbelastetes normales Verhältnis zu Russland wird es jahrzehntelang nicht geben. Das politische System in Russland ist vollständig verkommen und müsste völlig verändert werden. Es wird daher die Aufgabe der nachfolgenden Generationen sein, sofern Russland sich verändert, miteinander wieder einigermaßen ins Gespräch zu finden.

Vor etwa zehn Monaten hat die Bundesregierung die Zeitenwende ausgerufen und ein 100 Milliarden Euro schweres Paket für die Bundeswehr angekündigt. Werden unsere Streitkräfte zur modernsten und schlagkräftigsten Armee Europas?

Deutschland muss gemeinsam mit seinen Partnern die Führung in Europa übernehmen. Dazu brauchen wir auch eine modern ausgestattete Bundeswehr. Der Wehretat wird auf lange Sicht deutlich steigen müssen, so wie das in allen anderen europäischen Nachbarstaaten auch geschieht. Denn das Gefahrenszenario hat sich, wie wir gerade erleben, deutlich verändert. Im Zentrum der Bundeswehr steht die Luftwaffe, die Marine und das Heer. Heute haben wir zudem den Weltraum zu sichern und angesichts der Strom-, Internet- und Gasleitungen, die auf dem Meeresboden verlaufen, müssen wir auch die Dimension „unter Wasser„ verstärkt in den Fokus nehmen. Ein weiteres Schlachtfeld ist der Cyber- und Informationsraum. Wenn wir uns also erfolgreich schützen und verteidigen wollen, müssen wir Gefahren in unterschiedlichen Sphären frühzeitig erkennen und entsprechend schützen.

Aber die deutschen Streitkräfte sind derzeit weit davon entfernt: Es fehlt an Material, von Munition bis zum Flugzeug, und an Personal. Ob der Panzer Puma einsatzfähig ist, gleicht einem Lotteriespiel.

Wir dürfen nicht vergessen, dass die Bundeswehr 24 Jahre lang, von 1990 bis 2014, komplett heruntergewirtschaftet wurde. Waffenbestände wurden zusammengespart, Personal abgebaut, Liegenschaften geschlossen und in nichts mehr nachhaltig investiert. Nach der Annexion der Krim 2014 hat die Regierung zwar mehr Geld in die Hand genommen, aber längst nicht so viel, wie eigentlich nötig gewesen wäre. Dieses riesige Defizit bei der Bundeswehr lässt sich nicht innerhalb von zehn Monaten beheben. Aber die ersten Schritte sind getan.

Derzeit kann die Bundeswehr ihre Nato-Aufgaben nur eingeschränkt erfüllen, etwa an der Nato-Ostflanke in Litauen, so ein Bericht an den Verteidigungsausschuss vor einigen Tagen. Deutschland stellt ab Januar auch die schnelle Eingreiftruppe, kann aber keine Artilleriekräfte stellen, und es fehlt an abhörsicheren Digitalfunkgeräten.

Für die Nato-Speerspitze hatte die Bundeswehr viel Material und Personal zurückgehalten. Dadurch lief der Grundbetrieb in der Truppe nicht so rund wie erforderlich. Jetzt sind wir im Begriff, viel Geld zu investieren, um sowohl den Grundbetrieb der Streitkräfte als auch unsere Bündnisaufgaben in der Nato umzusetzen. Die brutale Realität holt uns gerade ein, dass unser bisweilen geradezu sorgloses Leben sich sicherheitspolitisch schlagartig ändert. Es ist gut, dass wir darüber sprechen und die Bürgerinnen und Bürger entsprechend sensibilisieren. Jeder wird verstehen, dass wir viel nachzuholen haben.

Zündet Deutschland also tatsächlich den Turbo?

Ja, wir zünden den Turbo. Dabei kann und wird es allerdings auch zu Fehlzündungen kommen. Das sehen wir just gerade beim Schützenpanzer Puma. Jeder General und jeder Projektleiter muss wissen, die Lage ist ernst, sehr ernst. Niemand im Ministerium und in den Behörden kann etwas auf die lange Bank schieben. Die Zeit der Erklärungen und Ausreden im Ministerium, aber auch bei den Herstellern ist vorbei. Macht der Puma Probleme, schicken wir eben den Marder, ist nicht die Antwort. Alle Verantwortlichen müssen sofort die Probleme lösen und den Puma zum Einsatz bringen. Wir haben schließlich viel Geld in das System gesteckt.

Wenn Sie auf 2023 schauen, worauf freuen Sie sich, und haben Sie Vorsätze?

Vorsätze zu haben, habe ich mir abgewöhnt. Ist weniger frustrierend, wenn es nicht klappt. Ich freue mich, wenn die Tage wieder heller werden, die Natur aufwacht und sich hoffentlich der Optimismus breitmacht. Mein größter Wunsch ist, dass die Ukraine den Krieg gewinnt und das unermessliche Leiden ein Ende hat. Was immer geschieht, wir müssen darüber laut und deutlich sprechen und, ja, im besten Sinne darüber streiten. Wir dürfen nur eins nicht zulassen, dass wir uns daran gewöhnen, dass in Europa ein Krieg tobt.

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