Geheime MobilmachungWie Russland mit einem Trick seine Truppen aufstockt

Lesezeit 4 Minuten
Russischer Soldat 240522

Russischer Soldat in Cherson 

Die russischen Streitkräfte haben in den vergangenen Wochen in der Ukraine massive Verluste erlitten. Fachleute schätzen, dass etwa 15.000 russische Soldaten bei den Kämpfen getötet und 25.000 weitere verwundet wurden oder anderweitig nicht mehr kampfbereit sind. Auf etwa ein Drittel seiner Bodentruppen könne Russland nach Informationen des britischen Geheim­dienstes nicht mehr zurückgreifen.

Durch den Wegfall der Truppen verliert Russland sehr viele seiner Angriffs­möglichkeiten. Jetzt plant der Kreml offenbar, mehr Soldaten zu rekrutieren: In der Staatsduma hat der Vorsitzende des Verteidigungs­ausschusses eine Gesetzesänderung eingebracht, wonach das Alter für den Wehrdienst nicht mehr auf 40 Jahre begrenzt werden soll. Derzeit liegt die Obergrenze bei 40 Jahren für Russen und 30 Jahren für ausländische Staatsbürger. „Russland mangelt es an Infanterie“, interpretiert der Innsbrucker Politik­professor Gerhard Mangott diesen Schritt.

Russland braucht dringend mehr Soldaten

In der Begründung des Duma-Antrags heißt es: „Für den Einsatz von hochpräzisen Waffen sowie den Betrieb von Waffen und militärischer Ausrüstung werden hoch­professionelle Spezialisten benötigt. Erfahrungsgemäß besteht die Spezialisierung im Alter von 40 bis 45 Jahren.“ Experten wie Oberst Markus Reisner vom Österreichischem Bundesheer sehen darin eine verdeckte Mobilisierung neuer Soldaten für den stockenden Krieg gegen die Ukraine. „Russland ist auf weitere Soldaten in der Ukraine angewiesen, sodass eine Mobilmachung fortlaufend stattfindet“, sagt der Militärexperte im Gespräch mit dem Redaktions­Netzwerk Deutschland (RND).

Das könnte Sie auch interessieren:

Druck kommt auch von der „Gesamt­russischen Offiziers­versammlung“, einer prorussische Veteranen­vereinigung, die Wladimir Putin zu einer Kurskorrektur auffordert: Er solle anerkennen, dass die russischen Truppen nicht bloß die Ukraine „entnazifieren“, sondern es sich um einen Krieg Russlands um historische Grenzen und den Platz in der Weltordnung handele. Die Veteranen riefen Putin zu einer Teil­mobil­machung und einer Verlängerung der Wehr­dienst­zeit von einem auf zwei Jahre auf. Für Deserteure solle die Todes­strafe eingeführt werden, heißt es in einer Auswertung des US‑Thinktanks Institute for the Study of War.

Viele Experten hatten erwartet, dass es zu einer General­mobil­machung am 9. Mai kommt, dem in Russland bedeutsamen „Tag des Sieges über Nazi-Deutschland“. Doch dazu kam es nicht, obwohl die russischen Streitkräfte auf Unterstützung angewiesen sind. „Am 9. Mai hat es deshalb ganz bewusst keine Mobil­machung gegeben, um den Westen in seinen Einschätzungen nicht zu bestätigen“, erklärt Experte Reisner.

Wehrpflichtige in Russland unterschreiben Zeitvertrag

In Russland wird immer wieder über eine Mobilmachung diskutiert. Im Staatsfernsehen fürchten Thinktanks, dass Russland den Krieg nicht ohne General­mobil­machung gewinnen wird. „Hier wird zusätzlich Stimmung gemacht“, so Reisner. Dabei habe Moskau bereits sukzessive die Anzahl seiner taktischen Bataillons­gruppen erhöht. „Zu Beginn des Krieges waren es etwa 90 Bataillone, jetzt sind wir bei 110 aufwärts.“ Ein solches Bataillon besteht aus 600 bis 1000 Soldaten.

Der letzte größere Truppen­zuwachs ist laut Reisner noch nicht lange her: „Tausende Wehrpflichtige haben nach dem Ende ihrer Wehrdienstzeit am 1. April einen Zeitvertrag unterschrieben, verfügen über eine abgeschlossene Basis­ausbildung und kommen jetzt nach und nach an die Front.“ Nach ukrainischen Angaben handelt es sich um etwa 60.000 Soldaten. Sie können aber gerade einmal die Verluste im Krieg gegen die Ukraine auffüllen und dort Lücken stopfen, wo es bisher Defizite gab.

Akt der Verzweiflung in Russland

Für einen erfolgreichen Angriff benötigt man eine Überlegenheit von drei zu eins, lautet die Faustformel. Je besser der Verteidiger sich vorbereitet hat, umso höher sollte dieses Verhältnis aber sein. Die ukrainischen Verteidiger hatten Jahre Zeit, sich im Donbass auf den Angriff Russlands vorzubereiten. Moskau benötigt daher sehr viele Soldaten, um die Region vollständig zu erobern. Dass nun bald womöglich auch ältere Männer kämpfen sollen, wertet der pensionierte US‑General Ben Hodges als Akt der Verzweiflung. „Dies ist der jüngste Versuch, dem Arbeits­kräfte­mangel entgegen­­zuwirken, ohne die eigene Bevölkerung zu beunruhigen“ so Hodges, der früher Befehlshaber der US‑Streitkräfte in Europa war. „Die Russen stecken eindeutig in Schwierigkeiten.“

Gegen die verdeckte Rekrutierung in Russland gibt es aber Widerstand. Rekrutierungs­büros im ganzen Land wurden mit Molotow­cocktails angegriffen, so das Institute for the Study of War in einer Analyse. Mindestens zwölf solcher Brandanschläge habe es in Russland gegeben, den letzten am Montag. Experten werten dies als Protest gegen Russlands Mobilisierungs­bemühungen.

KStA abonnieren