InterviewKassenärztechef: „Massenhaftes Testen bringt derzeit nur wenig“

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Der Chef der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, Andreas Gassen.

Berlin – Andreas Gassen ist Orthopäde, Unfallchirurg und Rheumatologe. Seit März 2014 ist er Vorstandsvorsitzender der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV). Sie ist die Dachorganisation der 17 regionalen Kassenärztlichen Vereinigungen und die politische Interessenvertretung der rund 180.000 in Praxen ambulant tätigen Ärztinnen und Ärzte sowie Psychotherapeuten und -therapeutinnen.

Herr Gassen, Omikron führt zu vielen, aber eher zu leichteren Erkrankungen. Merken Sie das in den Praxen?

Andreas Gassen: Die Praxen sind voll. Die Kolleginnen und Kollegen haben allerdings bisher den Eindruck, dass die Erkrankungen durch Omikron noch deutlich harmloser sind als bisher angenommen. Es nimmt aber die Zahl derjenigen Patientinnen und Patienten zu, die wegen diffuser Krankheitssymptome in die Praxen kommen. Die Menschen sind nach zweieinhalb Jahren Pandemie am Ende mit den Nerven, insbesondere die Kinder und Jugendlichen. Die Folgen der psychischen Belastung werden wir noch lange spüren. Auch das Hin- und Her bei den Test- und Quarantäne-Regeln zermürbt die Menschen.

Nun soll es doch wieder für alle einen PCR-Bestätigungstest geben. Ein sinnvoller Schritt?

Angesichts der hohen Omikron-Fallzahlen bei einer geringen Krankheitsschwere benötigen wir eine neue Teststrategie. Die rund 250.000 offiziellen Neuinfektionen pro Tag sind nur die Spitze des Eisbergs, dazu kommt eine Dunkelziffer in mindestens ähnlicher Höhe. Gleichzeitig bleibt die Auslastung der Intensivstationen auf einem überschaubaren Niveau. Auch in den Praxen erleben wir oft Patienten, die von einem positiven Testergebnis völlig überrascht werden, weil sie keinerlei Symptome haben und fit sind. Da stellt sich doch die Frage der Sinnhaftigkeit der Tests.

Wollen Sie das Testen einstellen?

Es macht perspektivisch und medizinisch wenig Sinn, täglich Millionen von Menschen anlasslos zu testen, wenn am Ende gegebenenfalls eine für das Individuum ungefährliche Infektion festgestellt wird. Aufwand und Nutzen stehen in keinem angemessenen Verhältnis mehr. Bei einer Grippewelle machen wir das ja auch nicht. Das massenhafte, unkontrollierte Testen bindet Kapazitäten und kostet viel Geld, bringt aber derzeit nur wenig. Die Schweden haben das richtigerweise erkannt und das Testen weitgehend eingestellt. Auch wir brauchen wieder eine rationale Herangehensweise.

Die da wäre?

Wir müssen aufhören, Kindern und Jugendlichen in den Kitas und Schulen tagtäglich belastende Tests zuzumuten und sie mit unverständlichen Quarantäneregeln zu drangsalieren. Wir machen den Kindern und Eltern damit doch das Leben schwer. Regelmäßige Antigen-Tests und insbesondere PCR-Tests sind letztlich nur noch bei besonders gefährdeten Menschen, beim medizinischen und pflegerischen Personal und bei Beschäftigten in der kritischen Infrastruktur notwendig, aber sicher nicht bei Symptomlosen. Dann kommt es aber erst recht zu einer Durchseuchung!

Das passiert doch ohnehin schon , trotz millionenfacher Tests. Das zeigen doch die aktuellen Infektionszahlen. Auch das Argument, wonach man nur durch Tests den Überblick über die Pandemie behält, zieht nicht mehr. Da die Gesundheitsämter die Nachverfolgung schon weitgehend aufgegeben haben, ist genau diese angebliche Übersicht doch längst verloren gegangen. Es wurde immer von der Gefahr der Überlastung des Gesundheitssystems gesprochen. In dieser Logik ist für die Beurteilung der Pandemie die Zahl der auf den Intensivstationen behandelten Patienten entscheidend Und diese Zahl kennen wir.

Gesundheitsminister Lauterbach sagt, er wundere sich über die aktuelle Öffnungsdebatte in der Politik. Wundern Sie sich über den Minister?

Natürlich müssen wir jetzt über nächste Schritte und Lockerungen reden. Minister Lauterbach selbst erwartet, dass der Höhepunkt der Omikron-Welle in wenigen Tagen erreicht ist. Danach wird es eine Entspannung geben. Es geht nicht darum, dass wir morgen sofort alle Beschränkungen aufheben. Aber die Menschen brauchen doch eine klare Öffnungsperspektive.

Nötig ist ein konkreter Zeitplan, wann welche Öffnungsschritte kommen sollen – und zwar abhängig von der Auslastung der Intensivstationen. Wenn die Perspektive da ist, wird die Bevölkerung es auch akzeptieren, im Zweifel noch mal etwas zuzuwarten oder einen Schritt zurück zu gehen. Das zeigen Schweden und Dänemark. Was jedenfalls nicht geht ist, dass sich die Politik jetzt wegduckt und nichts tut.

Womit anfangen bei den Lockerungen?

Alles, was im Freien stattfindet, ist relativ risikolos. Die Fußballstadien können also wieder voller sein. Die 2G-Regel ist in Teilen schon von Gerichten kassiert worden. Sie war ohnehin vor allem ein Mittel, Menschen zum Impfen zu bewegen. Das hat erkennbar nicht funktioniert. Deshalb muss sie überall weg.

Könnte der 19. März, an dem nach derzeitiger Gesetzeslage alle Pandemie-Einschränkungen auslaufen, der „Freedom Day sein“?

Das könnte als Startschuss für den Freedom Plan sicher angestrebt werden und wird vielleicht sogar so kommen. Das Narrativ für alle Einschränkungen war immer, eine Überlastung des Gesundheitswesens zu verhindern. Die hat es nie gegeben und die wird es auch nicht geben. Ja, es werden weiterhin Menschen schwer an Corona erkranken und auch daran sterben. Aber wer glaubt, die Pandemie könne man erst für beendet erklären, wenn niemand mehr an Corona stirbt, ist völlig realitätsfern.

Es wird allerdings überwiegend die verbohrten Menschen treffen, die sich nicht impfen lassen wollen. Aber auch Unvernunft müssen wir als Gesellschaft aushalten. Wir verbieten ja auch nicht bei warmen Temperaturen das Motorradfahren, nur weil sich immer wieder ein paar Unverbesserliche mit 250 km/h zu Tode rasen.

Auch in den Arztpraxen müssen ab 15. März alle geimpft sein. Wird das ein Problem?

Die Impfquote in den Praxen ist mit gut 90 Prozent sehr hoch, aber eben nicht bei 100 Prozent. Außerdem beobachten wir ebenso wie in der Pflege und im Krankenhaus ein Nord-Süd-Gefälle. Deshalb wird es, abgesehen von Krankenhäusern und Pflegeheimen, auch im niedergelassenen Bereich Engpässe geben, wenn die Regelung scharf gestellt wird. Wenn Herr Lauterbach sagt, ungeimpfte Beschäftigte haben in Praxen, im Pflegeheim oder im Krankenhaus nichts verloren, dann muss die Politik auch ertragen, dass dann zehn bis 15 Prozent des Personals ausfällt und nie wieder zurückkommt.

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Wie soll die Impfpflicht umgesetzt werden?

Wir haben die Politik früh gewarnt, weil das extrem kompliziert und das Gesetz handwerklich schlecht ist. Wahrscheinlich wird es nun eine unspezifische Durchführungsbestimmung geben, die eine Art „rheinische Lösung“ zulässt.

Was bedeutet das für die allgemeine Impflicht?

Wenn nicht einmal die einrichtungsbezogene Impflicht praktisch durchgesetzt werden kann, ist auch die allgemeine Impfpflicht wohl politisch kaum durchsetzbar. Außerdem: Die Impfpflicht soll uns vor künftigen Wellen schützen. Wir wissen aber gar nicht, ob und wann eine weitere Welle kommt und um welche Mutation es sich handeln wird. Zudem haben wir natürlich bisher auch keinen Impfstoff gegen diese noch unbekannte Variante. Da wird es dann doch ziemlich absurd. Aktuell wäre es wichtiger, dass wir über eine vierte Impfung bei den von der Stiko definierten Risikogruppen sprechen.

Für einige Menschen ist demnach eine vierte Impfung oder gar eine wiederkehrende Auffrischung sinnvoll, für Junge und Gesunde wäre das bei heutigem Wissensstand aber Unsinn. Damit sieht es zunehmend danach aus, als ob es keine allgemeingültige Impfempfehlung geben kann, die man für ein Impfpflicht eigentlich fordern muss.

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