Kommentar zu BKA-Bericht„Gesellschaft ist hochnervös und vielfach überfordert“

Lesezeit 2 Minuten
seehofer-münch-dpa

Innenminister Horst Seehofer und der Präsident des Bundeskriminalamtes Holger Münch haben heute neue Fallzahlen zu politisch motivierter Gewalt vorgestellt.

Berlin – Die Nachricht kam nicht überraschend: Bundesinnenminister Horst Seehofer verkündete gestern erneut einen Anstieg der politisch motivierten Kriminalität. Dabei diagnostizierte der CSU-Politiker „klare Verrohungstendenzen“ im Land. Diese Verrohung findet auf zwei Ebenen statt.

Auf der einen Seite sieht der Extremismus aus wie immer: Es gibt ihn als Islamismus, Rechtsextremismus und Links ex tre mis mus. Während die Zahl der islamistischen Gefährder aufgrund des Niedergangs des „Islamischen Staates“ zuletzt zurückging, verzeichnet die Polizei bei links- und rechtsextremistischer Gewalt enorme Zuwächse.

Rechtsextremisten schrecken auch vor Mord nicht zurück

Dabei – und das ist der große Unterschied – schrecken Rechtsextremisten auch vor Mord nicht zurück. Die zunächst als Amoklauf apostrophierte Mordserie am Olympia-Einkaufszentrum in München belegt dies ebenso eindrücklich wie die tödlichen Schüsse auf Kassels Regierungspräsidenten Walter Lübcke sowie die Attentate von Halle und Hanau. Die jüngste Festnahme eines 53-jährigen Berliner Arbeitslosen, der Drohungen mit der Signatur NSU 2.0 verschickt haben soll, gehört ebenfalls in diese Kategorie.

Neu ist, dass parallel zur Corona-Pandemie binnen eines Jahres eine extremistische Bewegung aus dem Boden schoss: die „Querdenker“. Hier wiederholt sich ein Szenario, das wir von der Flüchtlingskrise kennen. Eine Situation, die von Teilen der Bevölkerung als bedrohlich empfunden wird, löst bisweilen irrationale Ängste und Polarisierungen aus, die sich wiederum teilweise in Gewalt entladen. Bereits vor der Flüchtlingskrise gab es die Finanzkrise mit ähnlichem Radikalisierungspotenzial.

Heute können beliebige Konflikte zu Radikalisierung führen

Parallel zu all dem entwickelt sich die Megakrise schlechthin: die Klimakrise. Viel spricht dafür, dass das Zeitalter der Radikalisierung erst begonnen hat. Wir befinden uns – zusätzlich getrieben durch die Digitalisierung – in einer hochnervösen und vielfach überforderten Gesellschaft, deren Mitglieder oft nur noch auf sich selbst schauen und in der jede Nichtigkeit zur Eskalation führen kann. Früher entwickelte sich die Radikalisierung aus schweren Konflikten. Heute können beliebige Konflikte zu einer Radikalisierung führen.

Das könnte Sie auch interessieren:

Die zentrale Herausforderung besteht darin, dass die Übergänge vom Normalen zum Radikalen fließend geworden sind. Bei „Querdenker“-Demos findet man führende Köpfe der Neuen Rechten ebenso wie Impfgegner, die John-Lennon-Lieder singen. Derlei lässt sich mit dem Instrumentenkasten der Sicherheitsbehörden nur noch bedingt in den Griff bekommen. Ziel müsste es sein, die Übergänge zwischen Normalität und Radikalität zu kappen, indem man die Nervosität der Gesellschaft selbst reduziert. Das ist eine politische Aufgabe. Und sie ist gigantisch.

KStA abonnieren