Kommentar zum ParteitagDie Grünen lassen sich Levithen lesen – von Klimaschützern

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Aktivistin Luisa Neubauer spricht auf dem Grünen-Parteitag in Bonn.

Wie sich die Grünen selbst sehen und sehen wollen, das offenbarte am Freitagabend ein Satz der Politischen Bundesgeschäftsführerin Emily Büning. „Am Ende werden wir die Welt gerettet haben müssen“, sagte sie zum Auftakt der Bundesdelegiertenkonferenz in Bonn. Und sie sagte es ohne einen Anflug von Ironie.

Die Grünen sind demnach eine Partei, die unentwegt Haltung zeigt, selbstlos das Beste will und allein von anderen daran gehindert wird, das Beste in die Tat umzusetzen.

Der hohe Ton bei Parteitagen ist das eine, die Realität in Regierungskoalitionen von Bund und Ländern ist etwas ganz anderes. Sie fügt sich der Selbstwahrnehmung jedenfalls nicht immer.

Solidarität mit Ukraine fordert ihren Tribut

In der Ampelkoalition bricht sich der Anspruch unübersehbar an der Außenpolitik. Diese soll wertegeleitet und selbstverständlich feministisch sein. Tatsächlich hat Außenministerin Annalena Baerbock soeben die Lieferung von Rüstungsgütern an Saudi-Arabien durchwinken müssen. Vizekanzler Robert Habeck reiste schon im Frühjahr zu den Menschenrechtsverletzern nach Katar, um dort knapp gewordene Energie einzukaufen.

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Außenministerin Annalena Baerbock im Gespräch mit Grünen-Deligierten.

Es ist in der aktuellen Lage nicht verwerflich, aber es ist eben auch nicht zu leugnen: Die gleichermaßen richtige wie unbedingte Solidarität mit der Ukraine gegen den brutalen russischen Angriff fordert ihren Tribut. Wenn es an Öl und Gas aus Russland mangelt, muss Ersatz beschafft werden. Dabei hat es Deutschland vielfach mit Regimes zu tun, die denen von Wladimir Putin vergleichbar sind.

Kohlekraftwerke müssen länger laufen – Lützerath wäre der Preis

Bei der Klimapolitik sieht es ähnlich aus. Wenn mit der Atomenergie Schluss sein soll, dann müssen Kohlekraftwerke länger laufen. Der Preis hat einen Namen: die Siedlung Lützerath im Rheinischen Revier. Sie wird zum Symbol. Hier wie dort werden innere Widersprüche mit dem kategorischen Imperativ „Verantwortung“ geglättet.

Derlei geschieht auch in den Ländern. In Sachsen etwa musste die grüne Justizministerin Katja Meier zum Jagen getragen werden angesichts der naheliegenden Forderung, die Wiederbeschäftigung des ehemaligen AfD-Bundestagsabgeordneten Jens Maier als Richter zu verhindern. Unterdessen lässt die Landespartei den in der Russland-Politik irrlichternden CDU-Ministerpräsidenten Michael Kretschmer gewähren. Es geht offenkundig nicht anders.

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Früher gab es zumindest in Berlin Widerspruch gegen allzu bereitwillige Anpassungen an das machtpolitisch mutmaßlich Unvermeidliche. Einer der Unbequemen ist unlängst gestorben: Hans-Christian Ströbele. An ihn wurde in Bonn wehmütig erinnert.

Jetzt haben 40 Prozent der Delegierten erstmals an einem Parteitag teilgenommen; dies ist Konsequenz des rapiden Mitgliederzuwachses. Nur kamen abweichende Anträge vielfach von drei Männern, die schon auf den letzten Parteitagen unbequem waren: Klemens Griesehop aus Berlin, Karl-Wilhelm Koch aus Rheinland-Pfalz und Philipp Schmagold aus Hessen.

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Einzige Ausnahme: der Streit um Lützerath. Da wurde der Konvent munter. Regelrecht schizophren mutete es an, dass die Parteispitze Luisa Neubauer in ihrer Eigenschaft als Klimaaktivistin einlud, um ihr die Leviten zu lesen. Der Widerspruch muss teilweise importiert werden. Sonst droht die Partei in ihrem Verantwortungsimpetus zu erstarren.

Der Erfolg gibt der Partei letztlich recht. Ihr Kurs bleibt stets erkennbar. Auch hat sich die neue Grünen-Spitze konsolidiert. Die erst 28-jährige Vorsitzende Ricarda Lang hat sich bei ihrem Bonner Auftritt erneut als großes Talent präsentiert. Doch bei allem Parteitagspathos gilt: Zwischen Anspruch und Wirklichkeit klafft auch bei den Grünen eine Lücke. Das ist ein Wesensmerkmal der Partei – und ein Wesensmerkmal demokratischer Politik.

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