Mariupol vor dem Fall?Tausende Tote, Menschen verhungern und Angst vor Kadyrow

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Mariupol Mann AP 290322

Ein Mann geht mit einem Fahrrad durch Mariupol. (Archivbild)

Der Bürgermeister von Mariupol, Vadym Boychenko, hat die Situation in seiner Stadt mit dramatischen Worten beschrieben. „Leider gibt es noch ziemlich viele Zivilisten in der belagerten Stadt Mariupol. Nach unseren Schätzungen halten sich etwa 160.000 Menschen in Mariupol auf“, sagte er einem Reporter von Ukrinform. Die Stadt sei quasi unbewohnbar, es gebe weder Wasser noch Strom oder Heizung und keine Kommunikationsmöglichkeiten. „Es ist wirklich schrecklich.“

Der Bürgermeister sprach von einer „Demütigung“ durch die russischen Truppen. Am Montag sollten laut Boychenko 26 Busse zur Stadt fahren, um weitere Menschen zu evakuieren. Doch immer wieder sei auf die Busse geschossen worden. Mehr als jeder zweite Einwohner hat bereits die Stadt verlassen.

Amnesty International: Russland verübt in Mariupol Kriegsverbrechen

Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International kritisierte die Belagerung Russlands scharf und kündigte einen umfassenden Bericht an. „Die Belagerung von Mariupol, die Verweigerung einer humanitären Evakuierung und humanitären Flucht für die Bevölkerung, und die Angriffe auf Zivilisten“ seien Kriegsverbrechen, sagte Amnesty-Generalsekretärin Agnes Callamard in Johannesburg. „Das ist die Realität der Ukraine im Moment.“ Der Angriff Russlands auf die Ukraine sei nicht nur ein Verstoß gegen das Völkerrecht, sondern auch ein Verstoß gegen die UN-Charta, wie es sie zuletzt beim Einmarsch der USA in den Irak gegeben habe.

Mariupol Explosion ap 290322

Das Geschoss eines russischen Panzers schlägt am 11. März in ein Wohngebäude in Mariupol ein. 

Mariupols Bürgermeister hofft nun, dass möglichst schnell auch die letzten Menschen aus der Stadt evakuiert werden können. Er sieht Mariupol bereits fest im Griff der russischen Streitkräfte. „Leider sind wir hier jetzt in den Händen dieser Besatzer.“

Mariupols Bürgermeister: 5000 Tote

Mehreren Journalisten stellte Boychenko Daten über das Ausmaß der Zerstörung durch russische Angriffe zur Verfügung. Demnach seien 90 Prozent der Häuser in Mariupol beschädigt. Von ihnen wurden 40 Prozent völlig zerstört. Auch der Großteil der Krankenhäuser und Schulen in der Stadt soll bei den Angriffen schwer getroffen worden sein.

Etwa 5000 Menschen seien bereits gestorben, unter ihnen mehr als 200 Kinder. Die UN erhält immer mehr Daten, die die Existenz von Massengräbern in Mariupol bestätigen, so die ukrainische Nachrichtenagentur Unian. Immer mehr Menschen würden verhungern, weil Mariupol von der Versorgung abgeschnitten ist.

Wie der Generalstab der Streitkräfte der Ukraine am frühen Dienstagmorgen erklärte, hätten die ukrainischen Truppen die Verteidigung in Mariupol aber weiter aufrechterhalten können. Laut dem britischen Geheimdienst versuche Russland den Hafen von Mariupol einzunehmen.

Selenskyj: Viele wollen Mariupol nicht verlassen

Mariupol wird von russischen Streitkräften bereits seit Wochen belagert. Der ukrainische Präsident Selenskyj teilte mit, am Montag hätten keine humanitären Korridore für Menschen aus der Stadt geöffnet werden können, da Russland die Stadt weiter angreife. Weiter sagte Selenskyj, dass russische Truppen bisher noch nicht in die Stadt eindringen konnten. „Sie haben keinen Teil der Stadt betreten“, so der ukrainische Präsident.

Viele Menschen würden sich aber weigern, die Stadt zu verlassen, weil sie verwundete und verstorbene Landsleute nicht zurücklassen wollen. „Auf den Straßen und Bürgersteigen der Stadt liegen Leichen“, sagte Selenskyj laut dem ukrainischen Nachrichtenportal TSN. „Leichen von russischen Soldaten und Bürgern der Ukraine liegen einfach herum – niemand entfernt sie.“

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Am Dienstag soll es nun möglich sein, mit privaten Autos die Stadt zu verlassen, so Vizeregierungschefin Iryna Wereschtschuk. Mehr als zwei Dutzend Busse seien zudem von Saporischschja nach Berdjansk am Asowschen Meer unterwegs. Sie sollen ebenfalls Menschen aus Mariupol mitnehmen.

Russische Medien berichten unterdessen, dass der tschetschenische Anführer und Putins enger Verbündeter Ramsan Kadyrow in die Ukraine reisen würde, um den Angriff auf Mariupol zu leiten. „Tschetschenenführer Ramsan Kadyrow ist in Mariupol, um den Kampfgeist unserer Kämpfer zu steigern“, zitiert die staatliche russische Nachrichtenagentur Ria Nowosti einen tschetschenischen Minister am Montag. Das ukrainische Innenministerium bezweifelt, dass Kadyrow nach Mariupol reist, und geht davon aus, dass Russland mit diesen Gerüchten Angst in der ukrainischen Bevölkerung säen wolle.

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