Das große Geschäft mit der SpaltungWie gefährlich ist „Friedensforscher“ Daniele Ganser?

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Daniele Ganser bei einem Auftritt in Dresden im Oktober 2022. (Archivbild)

Daniele Ganser bei einem Auftritt in Dresden im Oktober 2022. Verbreitet er Verschwörungserzählungen? (Archivbild)

Der Schweizer Daniele Ganser tourt mit einem Vortrag zum Ukraine-Krieg bald durch Deutschland – unter Protest.

Bevor sie in ihre Blase dürfen, zu ihrem Dr. Ganser, müssen sie eine letzte Barriere passieren. Eine Gruppe von rund 20 Menschen, teils in ukrainische Flaggen gehüllt, steht vor einer Schweizer Veranstaltungshalle und will den Besuchern des Vortrags „Warum haben wir Krieg in Europa?“ ihre „Zetterli“ in die Hand drücken. Darauf eine Friedenstaube, eine offene Hand. „Wir trinken Tee. Mit Ihnen“, steht als Angebot darauf. Die Zettelverteiler haben sechs Thermoskannen mitgebracht, eine Kiste mit bunten Teetüten.

Sie wollen über Daniele Ganser diskutieren – und über sein Thema: den Ukraine-Krieg. Auf den Flyern haben sie populäre Thesen von Ganser notiert: „Die Schuld am Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine trägt die Nato“ oder „Die CIA hat 2014 einen Putsch inszeniert und in der Ukraine eine USA-hörige Regierung inszeniert“. Zu jedem Punkt führen sie auf den Zetteln Gegenargumente auf.

Daniele Ganser: Selbsternannter „Friedensforscher“

Es ist der letzte Versuch, einige der rund 1000 Besucher vor einem Redner zu warnen, der überall, wo er auftritt, ob in Deutschland, Österreich oder der Schweiz, für Spannungen sorgt – selbst hier in Biberist, einer nicht mal 10.000 Einwohner großen Gemeinde zwischen Basel und Bern. Ganser ist Schweizer, Historiker und selbsternannter „Friedensforscher“. Er schreibt amerikakritische Bücher wie „Imperium USA“ und landet damit auf den Bestsellerlisten. Seine Kritiker werfen ihm vor, er sei Verschwörungstheoretiker, russlandtreuer Propagandist, Antisemit. Seine Fans feiern ihn als Aufklärer, mehrere Hunderttausende folgen ihm in den sozialen Netzwerken und nennen ihn dort teils ehrfürchtig „Dr. Ganser“ oder „Herr Ganser“.

Ab März tourt Ganser mit seiner Vortragsreihe durch 14 deutsche Städte von München bis Kiel. Fast überall, wo er sich ankündigt, zeigt sich dasselbe Schema: Proteste aus der Politik und von Zivilbündnissen, Empörung und juristische Drohungen auf der Ganser-Seite. So ist es beispielsweise in Aachen, Kiel, Hannover, Rostock. Nürnberg und Dortmund haben seinen Auftritt bereits abgesagt, in anderen Städten wird noch gerungen. Trotz der Debatten sind die Säle am Ende oft ausverkauft, so war es häufig in der Vergangenheit. Was fasziniert die Menschen an Daniele Ganser? Und warum wollen andere seine Auftritte um jeden Preis verhindern?

Ganser-Anhänger: „Das sind schon Verrückte“

Organisiert hat den Tee-Protest ein junger Mann mit schwarzem Bart und hellblauen Fingernägeln. Jeder Mensch solle sich durch die Flyer „ein bisschen kritischer“ in den Saal setzen, sagt Dominik S., 26. Er und die anderen Aktivisten sind aus Bern, Luzern, Zürich angereist. Ein halbes Dutzend Polizisten wacht über die Konfrontation.

Noch vor ein paar Jahren sei er selbst ein Ganser-Jünger gewesen, sagt Dominik. Er habe seine Videos auf YouTube gesehen und gedacht, „dass der Westen böse ist und Russland die heile Welt rettet“. Das Politikstudium habe ihn aus diesem Kosmos wieder herausgeholt. „An der Uni habe ich gelernt, wie man mit Quellen umgeht, was Wissenschaft wirklich bedeutet.“ Gansers Taktik sei es, verschiedene Mythen zu bedienen und sich als Heilsfigur zu gerieren, „an der man sich festhält“.

Nun will er mit Leuten sprechen, die noch „tief im Loch sind“, wie er es formuliert. Teils verfolgt er die Besucher bis zum Eingang der Arena, redet auf sie ein, doch kaum einer bleibt stehen. Vor der „Biberena“ scharen sich die Gäste um eine Feuertonne. Einer guckt auf die Tee-Einladung und murmelt: „Das sind schon Verrückte.“ Hier sehen sie es genau andersrum: Die Protestler seien verblendet durch die Presse und selbst in einem Loch – aus dem sie selbst dank der Hilfe von Herrn Ganser herausgefunden haben.

Corona: Verstärkte Gefolgschaft für Ganser

Ein junges Paar sagt, die Medien verfolgten sie gar nicht mehr, das bringe nichts. Ein Besucher aus Ostdeutschland meint, früher habe man auch das West- und das Ostfernsehen gebraucht, um sich eine Meinung zu bilden. Andere erzählen, sie folgten Ganser verstärkt seit der Corona-Pandemie. Eine Gruppe verteilt Flyer, auf denen sie sich unter anderem gegen die „Corona-Zwangsmassnahmen“ ausspricht. Ganser, das wird schnell deutlich, bietet für fast jede politische Anti-Gruppierung Anknüpfungspunkte.

Es ist sein Erfolgsrezept. 2006 stellt Ganser den Hergang der Terroranschläge vom 11. September in einem Zeitungsartikel infrage, stützt Verschwörungstheorien und findet so Anklang in der sogenannten „Truther“-Bewegung, die ein Komplott der US-Regierung vermuten. In seiner Doktorarbeit beschäftigt er sich mit verdeckten paramilitärischen Einheiten, den „Nato Geheimarmeen in Europa“, wie der Titel der späteren Veröffentlichung lautet. Nach seiner Promotion schlägt Ganser zunächst eine wissenschaftliche Karriere ein. Doch bald nach seinen Aussagen zu 9/11 verliert er seine Hochschulanstellung in Zürich. Seine Historiker-Kollegen werfen ihm vor, unwissenschaftlich zu arbeiten, Medienberichten zufolge scheitert deshalb seine Habilitation.

Ohne Chance auf wissenschaftliche Reputation gründet Ganser 2011 das „Institut für Friedensforschung und Energie“, dessen Hauptzweck darin besteht, seine Bücher und Auftritte zu vermarkten. Unter dem Label „Friedensforscher“ hält er in den nächsten Jahren Vorträge zum 11. September oder über „Verdeckte Kriegsführung“, veröffentlicht einseitige Bücher über die „skrupellose Weltmacht“ USA. Ganser tritt beim „Quer-Denken.TV-Kongress“ auf, bei der „Anti-Zensur-Koalition“, er taucht auf Bühnen von Szenegrößen wie Ken Jebsen oder Jürgen Elsässer auf.

Seine Strategie ist es, im querdenkerisch-rechten Milieu nach Anhängern zu fischen, sich aber nie klar extremistisch zu äußern. 2017 sagt Ganser bei einer Rede, Deutschland werde „immer niedergedrückt mit dem Stichwort Hitler, Nationalsozialismus“. Er sei dafür, die „Verbindung Deutschland-Hitler“ zu kappen. In der Reichsbürger-Szene ist er populär, seitdem er davon sprach, aus Sicht der USA sei Deutschland „ein besetztes Land“.

2021 unterzeichnet er gemeinsam mit Querdenker-Mitinitiator Michael Ballweg einen Appell, der vor der Impfkampagne warnt, weil sie zu einer „Totalkontrolle“ führe. Und in einem Film von Gegnern der Corona-Maßnahmen vergleicht er die Pandemie mit dem Holocaust und spricht in diesem Zusammenhang über die Spaltung der Gesellschaft in Geimpfte und Ungeimpfte. Der Mantel des promovierten Historikers verleiht Gansers Auftritten eine scheinbar seriöse wissenschaftliche Note.

Daniele Ganser: Leben vom Personenkult

Sein letzter Uni-Lehrauftrag in St. Gallen wurde 2018 gestrichen. Seitdem ist der heute 50-Jährige auf Buchverkäufe und seine Vorträge angewiesen. Auf seiner Website wirbt er ausführlich um Spenden, bietet kostenpflichtige Video-Kurse zum Thema „Innerer Frieden“ an. Zudem bekommt man für 365 Euro Jahresbeitrag Zutritt zu einer Online-Community. Und seine Fans zahlen gerne. Rund 30 Euro kosten die Karten für seine aktuellen Tour-Auftritte – im Schweizerischen Biberist sind es gar 45 Euro.

Ganser lebt offensichtlich vom Personenkult. In der „Biberena“ versammeln sich die Zuhörer unter einem riesigen Kronleuchter, der Saal ist voll, es gibt Popcorn und Rivella-Limonade. Von einem Vorredner wird Ganser als „Leuchtturm der Information“ vorgestellt. Dann kommt Daniele Ganser im dunklen Anzug, weißen Hemd und weißen Sneakern zur Bühne, eskortiert von zwei Security-Mitarbeitern. Er kündigt an, in den nächsten zweieinhalb Stunden seine „Analyse“ einzubringen, das sei ein „Angebot“.

Ganser, dunkler Teint, glattrasiert, ist kein Hetzer wie Attila Hildmann oder andere Verschwörungsideologen, die mit dem Megafon die Menge aufwiegeln. Mit ruhiger, fast sanfter Stimme führt er durch sein Programm, streut immer wieder Scherze ein, wechselt im Stil eines Marketinggurus per Fernbedienung die Folien auf der Leinwand. Aber auch er versucht zu spalten: „Kennen Sie das, wenn man neue Leute trifft – man muss ein wenig herausfinden, mit wem man sprechen kann?“, lautet ein typischer Ganser-Satz an diesem Abend.

Für sein Publikum hat er viele einfache Antworten dabei. Bei seinen Ausführungen stützt Ganser sich auf herausgerissene Zitate aus Presseartikeln, häufig von deutschen Medien. Quellen, die er selbst als „Mainstreammedien“ verdammt. Daneben zitiert er verschwörungsnahe Internetportale oder Russia Today, den Propagandakanal des Kremls, der zu gern Ausschnitte von Ganser Auftritten zeigt und ihn in Talkshows einlädt. Er spricht nebulös von „Analytikern“, die er kenne und die Funksprüche abhörten. Fundiert wirkt sein Vortrag an keiner Stelle.

Nebensatz zum 11. September als Stimmungsmacher

Im Publikum wird trotzdem eifrig genickt und geklatscht – die Meinung der meisten Zuhörer zum Krieg stand bereits fest. Manche scheinen nur hier zu sein, um auf bestimmte Signale von Ganser zu warten. Etwa, wenn er fallen lässt, dass er nicht geimpft sei oder in einem Nebensatz den 11. September erwähnt. Dann steigt die Stimmung. Bei Ganser tummeln sich all jene, die nicht an die Impfung glauben, Russland in Schutz nehmen, gegen „woke“ Lebensstile und Medien protestieren, bei LGBTQ-Anspielungen verächtlich lachen. Hier bekommen sie das wohlige Gefühl, nicht allein in ihrem Meinungsbiotop zu sein.

Und Ganser, so wirkt es, befriedigt ihre Sehnsucht nach einem charismatischen Weltenerklärer. Im Fall des russischen Krieges gegen die Ukraine hört sich das so an: Die USA könnten den Krieg jederzeit beenden, indem sie der Ukraine keine Aufklärungsdaten mehr bereitstellten – „aber sie wollen nicht“. Die russische Invasion sei zwar illegal, aber hinter Selenskyj stünden die USA, die im Zuge des Maidan-Aufstands die Regierung installiert hätten. Die Krim selbst wollte sich abspalten und nicht Teil der Kiewer „Putschregierung“ sein, genauso wie die Ostukraine.

Manche Zuhörer fotografieren mit dem Smartphone jede seiner Folien ab, noch vor dem Vortrag bekommt er ein Schild: „Daniele, du bist ein Held und Vorbild – halte durch!“ Nach dem Vortrag drängeln sich die Fans, um ein Selfie mit dem „Helden“ zu ergattern. Zugleich nutzt dieser die Debatten um seine Person, um sich als Antiheld zu inszenieren. „Die Regierung hat gesagt, der Ganser darf nicht auftreten, die wollen das verhindern“, sagt er in Bezug auf den Dortmunder Oberbürgermeister. „Ich fahr„ trotzdem hin, mal schauen, wie es wird.“

Verschwörungsmythen: Die Saat des Zweifels

In wie vielen deutschen Städten er wirklich sprechen wird, ist noch unklar. Überall, in Stadtparlamenten, bei Antisemitismusbeauftragten und Zivilbündnissen regt sich Widerstand. In Dortmund wirkte der politische Druck bereits – die Westfalenhallen haben den Vertrag gekündigt. Nürnbergs Oberbürgermeister zog nach. Doch die Entscheidung gegen Ganser fällt nicht einheitlich aus.

Die Kernfrage ist: Wie viel muss eine Gesellschaft aushalten? Gehören manipulative, aber strafrechtlich nicht zu belangende Aussagen eines Verschwörungsvermarkters dazu? Oder muss man diese verhindern, weil die Zuhörer und Zuhörerinnen erst dadurch Eingang in eine Welt finden, die noch viel radikalere Anknüpfungspunkte bietet? Das berichten jedenfalls Aussteiger wie Dominik S., der vor der Biberister Halle die Tee-Aktivisten anführt.

Durch Gansers Videos habe er sich anfangs nur informiert gefühlt, sagt er. Doch Ganser säe Zweifel, die sich Schritt für Schritt ausbreiteten, und irgendwann sei man drin im „Verschwörungsuniversum“ und kapsele sich von allen ab. Dominiks Protestgruppe hat sich kurz nach Beginn des Vortrags aufgelöst. Die Polizei ist abgezogen, alles ist friedlich geblieben. Teetrinken wollte niemand mit ihnen.

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