Fake News im KriegPutin und Xi führen Weltkrieg gegen die Wahrheit

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Putin und Xi

Der russische Präsident Wladimir Putin (l.) und sein chinesisches Pendannt Xi Jinping. Da Foto stammt von der russischen Staatsagentur Sputnik.

  • „Die USA testen Biowaffen in der Ukraine“: Russland und China haben diese Verschwörungstheorie bereits in Milliarden Hirne einpflanzen können.
  • Fassungslos blickt der Westen auf die bisher größte globale Lügenkampagne.
  • Sie könnte ein böses Omen sein, Vorbote einer unheilvollen Verdüsterung der gesamten Weltlage.

Moskau/Peking/Kiew – „Wir haben die Ukraine nicht angegriffen.“ Der russische Außenminister hat diesen unglaublichen Satz wirklich gesagt: am 10. März 2022, in Antalya, bei einem Auftritt vor Medienvertretern aus aller Welt. Zur gleichen Zeit standen in der ukrainischen Hafenstadt Mariupol Menschen weinend an Massengräbern. >>Alle Entwicklungen und Nachrichten zum Krieg in der Ukraine im Newsblog. 1582 Zivilisten mussten beerdigt werden, nachdem russische Truppen tagelang Wohnviertel in in Mariupol in rauchende Ruinen verwandelt hatten: mit Artillerie, Raketenwerfern und sogar 1000-Kilo-Bomben aus Flugzeugen, von denen eine zynischerweise auch noch auf die Geburtsklinik der Stadt geworfen wurde. Videos zeigten ratlose Helfer, die auf Schubkarren blutende hochschwangere Frauen in Sicherheit bringen wollten und nicht wussten wohin.

Kein Krieg, kein Angriff

Ist das nicht doch eigentlich etwas, das man in weitesten Sinne als Angriff bezeichnen könnte? In Antalya wagte es eine Journalistin, diesen Punkt höflich anzusprechen. Doch der russische Außenminister bewegte sich keinen Millimeter. Augenrollend blicken viele Journalistinnen und Journalisten einander an.

Dabei ist alles leicht erklärbar. Lawrow will einfach bestimmte Wörter nicht sagen. Krieg zum Beispiel. Oder Angriff. In Antalya konterte er mit dem bekanntem Kremltalk: „Wir haben bei zahlreichen Gelegenheiten erklärt, dass wir uns in einer Situation befinden, die eine direkte Bedrohung der Sicherheit der Russischen Föderation darstellt …“

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Russische Panzer in den Außenbezirken der ukrainischen Stadt Mariupol

„Russland wurde durch die Ukraine bedroht“: Nach Meinung Moskaus wird der Westen in nächster Zeit schon noch lernen, diese Aussage zu akzeptieren. Ist es nicht endlich Zeit für mehr Respekt Russland gegenüber? „Russland wurde durch die Ukraine bedroht“: Die Aussage entspricht zwar nicht der Wahrheit, doch darum geht es nicht. Liegt nicht wahrer Respekt in der Verneigung vor dem Unwahren?

„Russland wurde durch die Ukraine bedroht“: Das ist immerhin die von Staatspräsident Wladimir Putin festgelegte offizielle Sichtweise einer Atommacht, die über 6255 nukleare Sprengköpfe verfügt. Gibt es weitere Fragen?

„Wahrhaft schockierende Fakten“

In den letzten Tagen legte Moskau noch eins drauf. Russland berief allen Ernstes eine Sitzung des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen in New York ein, um der gesamten Menschheit eine Verschwörungstheorie einzublasen: In der Ukraine hätten russische Truppen „mindestens 30“ Labors für Bio- und Chemiewaffen entdeckt, Russland sei auf „wahrhaft schockierende Fakten“ gestoßen, mit knapper Not habe man aber nicht nur sich selbst, sondern auch den Rest Europas vor dem ungeheuerlichen Treiben der „Neo-Nazis“ in Kiew retten können.

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Ein ukrainischer Soldat verlässt ein beschädigtes Gebäude in Kiew. (Archivbild)

Mit anderen Worten: Wir alle müssten Russland eigentlich zutiefst dankbar sein für den Einmarsch in die Ukraine. Viele brechen spontan in Gelächter aus angesichts einer so aberwitzigen Verdrehung der Realität. Doch nichts daran ist lustig. Die Welt blickt auf ein wahrhaft verstörendes Russland: eine kriegführende Atommacht, die den Krieg nicht wahrhaben will, ein verbrecherisches Regime, das noch auf Beifall wartet für den Völkerrechtsbruch.

Krieg ist Frieden. Freiheit ist Sklaverei. Unwissenheit ist Stärke. Das sind die zentralen Parolen der herrschenden Partei in George Orwells Roman „1984“. Für die Frage, was Fake ist und was Fakt, wurde in Orwells Überwachungsstaat eine elegante Lösung gefunden: Die Entscheidung trifft das Ministerium für Wahrheit. Und wenn jemand nicht mitmachen will, kümmert sich um ihn das Ministerium der Liebe, das den brutalen Unterdrückungsapparat steuert.

So viel Orwell war nie

Nie kam Russland diesen düsteren Visionen so nahe wie heute, im Frühjahr 2022. Putin hat die letzten unabhängigen Medien ausgeschaltet. Der Onlinefernsehsender Doschd sowie der Radiosender Echo Moskwy etwa sind verstummt. Doschd-Chefredakteur Tichon Dsjadko (34) floh – wie viele seiner Putin-kritischen Altersgenossen – in den letzten Tagen entsetzt ins Ausland. Dem Kreml gefällt das.

Auch Privatleute will Putin bei der Verbreitung von staatsunabhängigen Informationen und Einschätzungen bremsen. Erst wurden Facebook und Twitter blockiert, am 11. März kam Instagram hinzu, der nächste Schritt könnte Whatsapp treffen. Seinem Staatsfernsehen hat Putin verboten, das Wort Krieg auch nur zu nennen. Neue Sondergesetze drohen für die Verbreitung von „Falschaussagen“ über die russische Armee 15 Jahre Haft an. Was „falsch“ ist, entscheidet der Kreml: So viel Orwell war nie.

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Ein Bewohner holt in Charkiw Habseligkeiten aus seiner zerstörten Wohnung. 

Westliche Journalistinnen und Journalisten können in diesem Umfeld kaum mehr arbeiten. Würde ein ausländischer Korrespondent zum Beispiel eine höhere Zahl von russischen Todesopfern in der Ukraine nennen als die russische Regierung, müsste er prompt fürchten, verhaftet und zu einer Gefängnisstrafe verurteilt zu werden.

Immerhin gelangen noch Videos nach draußen

Wenn in den kommenden Tagen und Wochen immer mehr Menschen in Russland aus Protest gegen Putins Krieg auf die Straße gehen, wird die Welt Mühe haben, sie zu sehen. Und was nicht gesehen wird, ist in Putins neuem Russland gar nicht passiert.

Immerhin gelangen aber nach wie vor einige Videos nach draußen, offenbar unter anderem durch Twitter-Nutzer, die einen VPN-Tunnel nutzen. Am Sonnabend ging zum Beispiel eine wahrhaft orwellianische Szene aus der russischen 1,3-Millionen-Einwohner-Stadt Nischni Novgorod um die Welt: Eine junge Frau hält ein weißes Plakat hoch, auf dem nichts steht. Ein weißes Blatt? Ohne irgendein Wort? Wo kommen wir hin, wenn das jeder macht? Das Regime des starken Mannes Wladimir Putin kann so etwas nicht ertragen: Polizisten fassten zu und verhafteten die junge Frau.

Attacke auf Hirne im Westen

Putin begnügt sich nicht damit, seine eigenen Landsleute ins Visier zu nehmen. Seit etwa sieben Jahren schon befeuern seine Trollfabriken in sozialen Netzwerken jeden innenpolitischen Streit in allen Ländern der Nato. Putin, der gelernte KGB-Mann, verfolgt ein klassisches Ziel: Zersetzung, Schwächung, Verwirrung der westlichen Gesellschaften. Die EU hat, um das Treiben der Trolle zu analysieren und Desinformation vorzubeugen, mittlerweile eigene Abteilungen gegründet und ellenlange Dokumentationen angelegt.

Im Jahr 2015 schürte Putin die Aufregung europäischer Rechtspopulisten über die Geflüchteten aus Syrien – die er zuvor mit seiner eigenen Luftwaffe aus ihrer Heimat vertrieben hatte, schon damals durch Attacken auf Wohnviertel und Kliniken. Der größte Geldgeber der Brexit-Kampagne von 2016 war Aaron Banks, ein Mann, der sein Geld mit Russland-Geschäften verdiente.

Bei der Niederlage Hillary Clintons gegen Donald Trump, ebenfalls 2016, haben Putins Trolle und Hacker nach einem Bericht des US-Senats kräftig mitgeholfen – in der bis dahin größten Desinformationskampagne einer fremden Macht in der Geschichte der USA.

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Auch den Deutschen fasste Putin mitunter schon frech in die Hirne. Unvergessen ist der Fall Lisa, eine von Putins Manipulatoren fabrizierte Netzgeschichte über ein 13-jähriges russisches Mädchen, das angeblich von arabischstämmigen Geflüchteten verschleppt und vergewaltigt wurde. Deutsche Behörden, hieß es im Netz, verheimlichten den Fall. Aufgebrachte Russland-Deutsche gingen damals auf die Straße. Lisa war aber, wie sich herausstellte, wegen Problemen in der Schule zeitweilig von Hause weggelaufen. Schon damals spielte auch Außenminister Lawrow auf der Fake-News-Klaviatur und fragte bei öffentlichen Auftritten publikumswirksam nach „unserer Lisa“. Nach Informationen deutscher Stellen geschah Lawrows Intervention damals wider besseres Wissen.

Neue Lügen nach alten Mustern

Moskaus Lügenpolitik folgt wiederkehrenden Mustern. So hat es sich für Putins Manipulatoren als klug erwiesen, Dinge nicht völlig frei zu erfinden, sondern stets an Teilwahrheiten anzuknüpfen.

Lisa war tatsächlich eine Weile verschwunden. Und in der Ukraine gibt es tatsächlich, wie in anderen Staaten auch, international vernetzte Labors, die Krankheitserreger horten, weil sie – im Rahmen öffentlich bekannter Programme – an Biowaffenabwehr forschen. Ein solcher Ansatzpunkt hilft Moskau, einen nahtlosen Übergang zu schaffen zwischen Dichtung und Wahrheit. Zuletzt übrigens erhob Moskau den gleichen Biowaffenvorwurf gegenüber Georgien, es war im Jahr 2017, und es ging um das Lugar-Labor in der Nähe von Tiflis.

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Ein ukrainischer Feuerwehrmann in einem zerstörten Lebensmittellager in Kiew. 

Eine zweite – für die Freunde der Wahrheit traurige – Erfahrung lautet: Wird etwas nur oft genug wiederholt, fangen immer mehr Leute an, es zu glauben.

Putin macht sich einen Mechanismus zunutze, der aus seiner Sicht immer wieder wunderbar funktionierte. Die modernen, ohne Feinde aufgewachsenen Menschen in den westlichen Gesellschaften tendieren in guter Absicht dazu, bei jedem Streit eine Balance herzustellen. Sie suchen die Wahrheit stets in der Mitte. Der Effekt ist bekannt: Die Grenzen zwischen Wahrheit und Lüge verschwimmen, und sogar mit Blick auf anfangs ungeheuerlich wirkende Behauptungen sagen viele irgendwann, es werde, wenn auch vielleicht nicht alles stimme, „wohl schon was dran sein“.

Ein böses Omen – und China macht mit

Dass Putin jetzt erstmals die Biowaffenlüge auch im UN-Sicherheitsrat vortragen ließ, ist aus Sicht westlicher Geheimdienstler ein böses Omen. Offensichtlich will der Kremlherr das heimische Publikum hinter einer Linie der zunehmenden militärischen Eskalation in der Ukraine versammeln. Will Putin am Ende gar selbst zu atomaren, biologischen oder chemischen Waffen greifen?

Besonders bedrückend ist aus westlicher Sicht, dass die chinesischen Staatsmedien bei Putins Lügenkampagnen mitziehen. Dem Westen gegenüber tun die chinesischen Oberen zwar so, als wollten sie sich aus der Russland-Krise heraushalten. Chinas Präsident Xi Jinping erweckte zuletzt gegenüber Bundeskanzler Olaf Scholz und dem französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron in einer Dreierschalte sogar den Eindruck, er werde vermitteln oder zumindest dämpfend auf Putin einwirken.

Tatsächlich aber lässt Xi über seine Staatsmedien eilends die Biowaffentheorie verbreiten. Ebenso wie im russischen Fernsehen wird Putins Krieg in China schon seit zwei Wochen als „spezielle Militäroperation“ heruntergespielt. Die Laborlüge verbreitete erst Chinas großer Staatssender CCTV, dann schob laut einer Analyse des US-Senders CNN auch noch Chinas staatliche Nachrichtenagentur Posts auf sozialen Netzwerken hinterher – für den Fall, dass jemand die Abendnachrichten verpasst hatte. Was treibt die Chinesen zu solchem Eifer? Plant China vielleicht schon eine eigene Lügenkampagne – um damit irgendwann einen Einmarsch in Taiwan und die Zerschlagung der dortigen Demokratie zu rechtfertigen?

Selenskyj trotz der Fake-Kampagne mit dem Handy

Einmal kam es bei Chinas Massenmanipulation in Sachen Ukraine schon zu einer peinlichen Übererfüllung des Plans. Als der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj sich am Morgen des 26. Februar per Videobotschaft lebend aus Kiew meldete, taten Xis Staatsmedien dies als Fake News ab. Peking folgte damit offenbar einer Verabredung mit der russischen Seite. Noch viereinhalb Stunden nach Selenskyjs Auftritt beharrte Chinas Staatssender CCTV darauf, der ukrainische Präsident habe Kiew verlassen, und zwar schon am 25. Februar.

Chinas Medienmanipulatoren haben es gut. Sie müssen nicht befürchten, sich anderntags wegen bewusster Irreführung ihrer Zuschauer öffentlich rechtfertigen zu müssen. Erstens ist genau das schließlich ihr Job. Und zweitens können sie darauf vertrauen, dass eine offene Debatte in ihrem Land ohnehin nicht in Gang kommt. Wer in China auch nur die Zahlenfolge 1-9-8-4 als Bestandteil einer Nachricht eintippt, fällt schon auf und bekommt Ärger.

Die orwellianischen Exzesse in China und in Russland parallel zu Putins Einmarsch in der Ukraine müssen jeden rund um die Erde alarmieren, dem Freiheit und Menschenwürde etwas bedeuten. Russland und China haben im Februar 2022 einen Weltkrieg gegen die Wahrheit begonnen, als Verbündete.

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